Gewalt in der Geburtshilfe – der Kristeller-Handgriff
Gewalt in der Geburtshilfe. Bevor ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe, waren das für mich zwei völlig getrennte Begriffe. Wer sollte einer Frau, die gerade ein Kind zur Welt bringt, GEWALT antun? Noch dazu hatte ich bei zwei Geburten ausschließlich einfühlsames und respektvolles Personal und Handeln erlebt. Doch ich wurde eines Besseren belehrt. Viel zu viele Frauen überleben Übergriffiges und Gewalttätiges unter der Geburt – ein Zeitpunkt, in dem man so nackt, verletzlich und sensibel ist, wie wohl selten im Leben.
Wo beginnt Gewalt? Früh. Ich kenne keine Frau, der ein “Stellen sie sich nicht so an”, nicht weh tun würde, während sie ihr Kind auf die Welt bringt. Keine, nicht mal die Tougheste, würde das einfach so runterschlucken, ohne sich dabei richtig schlecht zu fühlen. Da beginnt Gewalt. Bei der richtigen Wortwahl. Darüber hinaus gibt es natürlich unzählige Eingriffe unter der Geburt, die sich gewalttätig anfühlen können – aber nicht müssen. Muttermund untersuchen ist so eine Sache. Tausend andere Dinge auch. Es gibt mittlerweile viel Literatur und viele Beiträge zum Thema, wer möchte kann hier mal reinhören, oder sich hier einlesen. (Spoiler: gerade der DF Beitrag ist ganz schön krass…)
Einer dieser “Eingriffe”, der relativ häufig passiert, ist der Kristeller-Handgriff. Was ist das? Am Ende des Geburtsvorgangs drücken Arzt oder Hebamme auf den Bauch, um das Kind von oben “herauszuschieben”. Was jetzt nach einem sanften Nachhelfen klingt, ist in Wahrheit oft ein ziemlich rauer Akt, die meisten Frauen beschreiben ihn als “auf den Bauch schmeißen” mit Druck und Kraft. Manchmal werden gar Tücher oder ähnliche Hilfsmittel verwendet, um möglichst doll zu drücken. Das tut weh. Und nicht selten haben die Frauen auch unter den Folgen des Eingriffs zu leiden.
Der Kristeller-Handgriff also.
Auch ich wurde am Ende meiner ersten Geburt “kristellert”. Auf janas hebammenblog habe ich das damals so beschrieben:
Der Arzt kommt, checkt kurz die Lage und sagt dann: „Bei der nächsten Wehe schmeiße ich mich auf Sie drauf, nicht erschrecken.“ Ich bin gefasst. Zack. Wehe! Er schmeißt sich, wie versprochen, mit seinem gesamten Gewicht auf meinen Bauch, drückt mir auf den Magen, es tut weh. Ich schreie laut und flehend. Man muss meinem Freund einen Stuhl bringen, er stand rechts neben mir. Nun sitzt er und sieht völlig entsetzt aus. Das muss alles ziemlich barbarisch aussehen!
Es war barbarisch. Aber es war trotzdem – wirklich – nicht schlimm. In diesem Moment war alles Ausnahmesituation, der Arzt hatte mich vorgewarnt, das Kind klemmte und das machten mir alle unmissverständlich klar. Ich habe mich nicht überrumpelt gefühlt und auch nicht unwürdig behandelt. Kurz danach war mein Sohn geboren, ich hatte nur einen kleinen Dammriss erlitten (der wäre vielleicht auch ohne Kristeller und Saugglocke passiert), ansonsten hatte ich keine weiteren Nachwirkungen.
Barbarisch – aber nicht schlimm
Kareen sagt, im Idealfall läuft es so. “Du hast es so erlebt, dass Du vertrauensvoll aufgehoben warst, fühltest Dich respektiert und gesehen. Das zeigt eben, dass es oft wirklich um das “wie” geht, Interventionen müssen eben nicht unbedingt mit einem besonders schlimm erlebten Geburtserlebnis verbunden sein.” So ist das. Fehlt aber diese Grundlage, ist es für das Geburtserlebnis oft fatal und wird von vielen Frauen als massiver und sehr körperlicher Übergriff erlebt.
Eine Leserin schrieb uns: Mit der Hebamme auf mir drauf und der Saugglocke an meinem Kind wurde meine Tochter in nur einer Presswehe geboren. Bald wurde festgestellt, dass Hämatome unter der Schädelplatte entstanden waren durch die Saugglocke. Es wurde befürchtet, dass sie eine Blutung im Kopf bekommen könnte. Darum waren wir nach der Geburt sechs Tage auf der Intensivstation. Ich konnte es kaum glauben; da hatte ich ein völlig gesundes Kind und nun liegt sie an Schläuchen und Geräten wegen der Saugglocke. Wenn ich an diese Geburt denke habe ich sehr gemischte Gefühle. Ich habe ein wunderschönes Kind geboren, das ich über alles liebe. Und ich bin stolz auf meinen Körper, wie er die Wehen gemeistert hat. Aber wenn ich an die letzte Phase der Geburt denke, kann ich mich nur an Gewalt erinnern, alle waren ruppig, mir wurde nichts erklärt. Und wie die Hebamme auf mir saß und das Kind rausgedrückt hat. Es fühlte sich an, als wäre das Kind meinem Körper entrissen worden. Ich denke, jede Geburt ist ein Gewaltakt, aber ich habe das Drücken auf meinen Bauch als sehr übergriffig und brutal empfunden.
Kareen ist sich sicher, dass Kristellern oft noch nicht mal besonders dokumentiert wird. “Das läuft so ein bisschen unter “erweitertes Handauflegen” nach dem Motto “Wir helfen mal ein bisschen von oben”. Das ist mit Sicherheit mindestens eine Bagatellisierung eines umstrittenen Eingriffs.” Auch denkt sie, dass in deutschen Kliniken außerordentlich viel kristellert wird: “Ich habe in meiner Hebammenausbildungen Anfang der 90er an einer Klinik gelernt, wo es Assistenzärzte gab, die bei JEDER Geburt kristellert haben. “Schneller mit Kristeller” war da einfach das Motto. Und ich habe nur sehr sehr wenige Ärzte erlebt, die das wirklich sanft und gleichzeitig effektiv können.”
Schneller mit Kristeller
Auch heute noch gäbe es Kliniken, die das immer noch so praktizieren. Und andere, fortschrittliche Häuser, wo jegliches überflüssiges oder gar übergriffiges Hands-On – sei es Kristellern, Dammschnitt oder routinemäßige vaginale Untersuchungen – absolut verboten, verpönt ist. Jessi, die seit zwölf Jahren in München in der klinischen Geburtshilfe arbeitet, pflichtet Kareen bei: “die Häufigkeit in der der Kristeller-Handgriff angewandt wird, habe ich schon immer hinterfragt. Ich habe an einer Klinik Ausbildung gemacht, da hat so gut wie keine Frau ohne dieses Manöver geboren.” Warum ist das so, frage ich mich.
Für Jessi ist die Sache klar: “Das wichtigste für eine Geburt ist Zeit und Geduld. An der Klinik fehlt es leider oft an beidem. Gerade am Ende einer Geburt entsteht an der Klinik oft ein enormer Zeitdruck. Nicht, weil man den Kreissaal für die nächste Geburt braucht, sondern getrieben von der Sorge, dass bei Mutter und Kind Komplikationen auftreten können. Man hat strikte Vorgaben, an die man sich halten muss. Es gibt wenig Spielraum. Ein Teufelskreis. Denn eine Intervention führt zur nächsten. Und oft endet die Geburt dann mit dem Kristeller-Handgriff.” Die Mutter einer Tochter, die in einer großen Klinik fest angestellt ist, sagt Kommunikation sei für ihre Arbeit das A und O. Sich auf die Frauen und Paare einlassen. Zuhören. Aber sie habe es auch schon anders erlebt: “Manchmal wird im Eifer des Gefechts jemand übermütig und fängt ohne Vorwarnung oder Erklärung das Kristellern an. Das geht gar nicht, da werde ich auch gerne ungehalten.” Sie selbst hat auch eine Geschichte zu erzählen:
Die Geburt meiner Tochter war mehr als rasant. Sie hatte zwischen den Wehen keine Pause und die Nabelschnur um den Hals. Dementsprechend schlecht waren ihre Herztöne. Ich hatte eine ganz wunderbare Hebamme. Und eine tolle Ärztin. Die ist jedoch etwas unverhofft dazu gekommen, eine Hebamme zu entbinden und war, glaub ich, etwas nervös. Der Kristellergriff sollte die Geburt verkürzen (jaaa! noch kürzer) wegen des pathologischen CTGs. Mir ist damals beim Kristellern mein Steißbein gebrochen. Dann war auch genug Platz und das Baby sofort geboren.
Richtig oder falsch
Ein gebrochenes Steißbein?? Andere erzählen von blauen Brüsten, von zerrissenem Gewebe. Kann man denn “richtig oder falsch” kristellern? “Ja, natürlich”, so Jessi. “Die richtige Technik ist wichtig und nicht die Kraft, die dahinter steckt. ‚Sachtes Kristellern’, mit den flachen Händen und nicht mit dem Unterarm, wenn man alle Alternativen ausgeschöpft hat, kann für Mama und Kind auch eine große Hilfe sein. Richtig angewandt und wohl dosiert kann der Kristellerhandgriff helfen, dass zum Beispiel keine Sauglocke nötig wird.”
Kareen erzählte mir von Frauen, die einen Milzriss und Rippenfrakturen erlitten haben. “Hämatome, also blaue Flecken, habe ich noch nicht mal mitgezählt. Also: Ja, man kann das falsch machen und manchmal – selten – geschieht das auch.”
Eine weitere Leserin schrieb uns:
Zum Ende hin meinten sie dann, dass meine Tochter jetzt raus muss, wegen der Herztöne. Zu dem Zeitpunkt war sie aber noch nicht komplett mit dem Köpfchen eingedreht und es wurde dann auch nur sehr kurz und knapp gesagt, dass sie jetzt die nächsten Wehe mit einem Druck auf den Bauch unterstützen. Von „draufschmeissen“ etc. war nicht die Rede. Die Ärztin schmiss sich dann aber super heftig auf den Bauch und bei der zweiten Wehe, schoss meine Tochter dann mit einem halb queren Kopf und 37 cm Kopfumfang raus und in dem Moment wusste ich eigentlich auch, dass das nicht alles heile geblieben sein konnte. Der Wehenschmerz war heftiger als der Schmerz beim Draufwerfen, aber mir war eben sofort bewusst, dass irgendwie alles gerissen war. Ich hatte einen Dammriss 3. Grades, also alles durch und auch ziemlich tief. Dazu kam ein weiterer Schmerz, der mich die nächsten 8 Wochen begleitet hat, bis ich dachte, dass es doch irgendwann mal mit dem Dammriss gut sein muss und nach mehreren Ärzten und Tipps meiner Hebamme kam raus, dass ich einen Steißbeinbruch durch die Geburt erlitten hatte. Das hat eigentlich das größte Trauma ausgelöst im Nachgang, weil mich die Schmerzen 1,5 Jahre täglich begleitet haben und niemand einem dabei wirklich helfen kann.
Muss es manchmal sein?
Das Kristellern habe ich schon als sehr störend und brutal in Erinnerung. Es war auch irgendwie nach dem immensen Wehenschmerzen dann zwar eine Art Lösung, um die Geburt zu beenden, aber im Grunde hat es super viel zusätzliche Schmerzen ausgelöst. Dammriss, Nähen, Steissbeinbruch. Ich kann nicht beurteilen, ob das die beste Lösung war, ich vertraue da auf die Ärzte und Hebammen, wie bedrohlich es für das Kind war und ob es keinen anderen Weg gab, sicher wollte die Ärztin mich nicht vorsetzlich verletzen oder hat das aus Spaß gemacht, da bin ich mir sicher, aber es hat so viele Konsequenzen mit sich gezogen, dass ich natürlich nicht dafür sprechen kann. Auch finde ich es auch sehr verstörend, dass alle sich um das Wohl des Kindes sorgen, aber das Wohl der Mutter total in den Hintergrund rückt. Natürlich ist in so einer Situation auch kein Not-Kaiserschnitt toll, Frauen, die das erleben, sind auch oft sehr traumatisiert. Und wie die Geburt verläuft ist vorher ja wirklich nicht erahnbar, dennoch bleibt bis heute das Gefühl, dass es irgendwie auch anders hätte laufen können.
Auch ich hatte damals das Gefühl, dass es sinnvoll war. Dass die Geburt wirklich “Druck von außen” brauchte. “Es gibt so Situationen bei einer Geburt, da muss das Kind absehbar geboren werden.”, erklärt Jessi und auch Kareen sagt: “Manchmal gibt es unter der Geburt Indikationen auch für unpopuläre Maßnahmen. Manchmal muss es schnell gehen, und manchmal sind zügige medizinische Handlungen notwendig, Situationen, in denen wenig Zeit und auch wenige Alternativen bleiben.”
Herr Kristeller – das war übrigens ein Frauenarzt, der vor 150 Jahren diese Manöver zum ersten Mal beschrieb – sagte selbst nicht ganz zu Unrecht, dass ein Schub, ein Druck von außen, dem natürlichen Geburtsvorgang näher sei, als am Kind zu ziehen. Das macht Sinn, finde ich. Kareen wendet ein: “damals ging das allerdings auch nur eher unsanft per Geburtszange.”
Dennoch geht es letztlich immer um die gleiche Fragestellung: Braucht es eine schnelle Geburtsbeendigung, die diese Maßnahme rechtfertigt? Und nur dann, wenn die Antwort “ja” lautet, darf man irgendetwas tun.
Eine Indikation ist notwenig
Ein Kristellermanöver braucht also immer eine Indikation, so wie jede Intervention unter der Geburt. “Und sie braucht auch Aufklärung und Einwilligung der Frau,” betont Kareen. “Nicht nur wegen der guten Sitten, sondern aus streng juristischen Gründen. Kristellern ohne erfüllt ansonsten den Tatbestand der Körperverletzung.”
Wenn sich Ärzte und Hebammen der Situation angemessen ruhig und klar, aber feinfühlig, respektvoll und achtsam ausdrücken, der Frau erklären, was gemacht wird. Dann, so denke ich zumindest, fühlt sich keine Frau übergangen. “Ok, wir haben jetzt Folgendes vor, das ist jetzt notwendig, viellleicht auch etwas doof, aber don´t worry, gleich ist dein Baby da. Wir passen gut auf Euch auf.”, so etwas in der Art schlägt Kareen vor – und schon ist es eine ganz andere Nummer.
“Jede Frau, die Gewalt unter der Geburt erlebt, ist eine zu viel.” so Jessi. “Ich möchte jede Frau, die das erlebt hat, dazu ermutigen mit ihrer Hebamme zu sprechen. Vielleicht hat ihr in diesem Moment der Blick dafür gefehlt, bestimmt denkt sie darüber nach und handelt hoffentlich in Zukunft achtsamer.”
Wo wir beim Punkt wären: was können wir tun, wenn es uns widerfahren ist? Und was, damit es uns nicht passiert? Eine detaillierte Aufklärung über den Kristeller-Handgriff im Geburtsvorbereitungskurs findet Kareen manchmal gar nicht so einfach.. Frauen sollen natürlich, mutig und unvoreingenommen in die Geburt gehen. Aufklärung ist wichtig, Vertrauen in die Geburt, in den eigenen Körper, in das Baby, aber auch in die Begleitperson. “Wenn ich alles an nur denkbaren Maßnahmen, Szenarien, medizinischen Interventionen aufzähle, kann das auch Ängste triggern, so dass das Gefühl aufkommen kann: Oh Gott, was machen die den da? Das kann kontraproduktiv sein”, sagt sie. Und es klingt ja auch logisch.
Und doch denke ich, dass es gut ist, zu wissen, dass das gemacht wird und sinnvoll sein kann, dass es aber abgesprochen sein muss. Ich bin eh der Meinung, wir sollten alle viel mehr über Geburt reden, ich zumindest hatte damals das Gefühl, viel zu wissen, gut aufgeklärt zu sein, und ich war dennoch total positiv gestimmt, als es mit den Wehen losging.
Wir haben uns neulich in unserem Podcast darüber unterhalten, was man tun kann. Die Geburtsklinik mit ins Boot nehmen, einen Geburtsplan verfassen, in dem alles das drinsteht, was man im Vorwege besprechen möchte, was man will und was nicht, über welche Maßnahmen man kurzfristig aufgeklärt werden möchte, welche Wünsche und Visionen man für die Geburt hat. Kareen ist der festen Überzeugung, dass das Sinn macht. Gerade “um dann auch wieder “abgeben”, und sich der Geburt hingeben zu können, weil man weiß, dass ein paar grundlegende Dinge geklärt sind.”
Gut begleitet sicher gebären
Der Kristeller-Handgriff kann also wohl nötig und sinnvoll sein. Er kann richtig oder falsch gemacht werden, er kann helfen, er kann aber auch viel Unrecht und Leid anrichten. Was ich wichtig finde, ist Achtsamkeit und Kommunikation. Dass Frauen aufgeklärt sind, sich nicht Dinge gefallen lassen, “weil man das so macht”, Fragen stellen. Das sie aber gleichzeitig auch mit Hebammen und Ärzten zusammenarbeiten, verstehen, dass auch diese sich oft in einem Dilemma befinden, für das sie nichts können.
Ich habe meine erste Geburt als wunderschön, aufregend, toll in Erinnerung. Trotz Interventionen, Kristeller-Handgriff, Saugglocke und Dammriss. Es war ein wahnsinniges Erlebnis. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich im Krankenhaus gut und richtig aufgehoben war. Ich sage immer zu Frauen, die die Geburt noch vor sich haben, dass sie sich die Klinik genau ansehen sollen. Wie hoch ist die Kaiseschnitt-Rate? Wie wirken die Hebammen? Gestresst oder entspannt? Sind sie einfühlsam und professionell? Es ist völlig egal, wie die Wände gestrichen sind und ob es anderes Schi Schi gibt. Wichtig ist, dass man gut zu euch ist. Wer das abgeklärt hat und sich dann noch traut, Dinge anzusprechen – das ist schon mal die halbe Miete.
In den letzten Jahren hat sich Vieles getan, um Geburtshelfer zu sensibilisieren, um das Thema zu enttabuisieren, der Roses Revolution Day ist ein Teil davon. Und so hoffe ich, dass jedes Jahr weniger Rosen niedergelegt werden. Und irgendwann vielleicht keine mehr.