Hach ja, Geschwister. Man stellt es sich so romantisch vor. Sie sollen “miteinander spielen”, sich lieben und aufeinander aufpassen. Und dann ist die erste Zeit mit zwei Kindern oft einfach nur sehr anstrengend. Das hat vor allem mit der sogenannten “Entthronung” zu tun. Kann man da irgendwie vorbeugen? Das Kind auf ein Geschwisterchen vorbereiten? Und von welchen Faktoren hängt es eigentlich ab, wie stark ein Kind reagiert? Wir haben darüber mit einer Erziehungs-Expertin gesprochen: Nicola Schmidt. Nicola ist Mutter, Wissenschaftsjournalistin, Bestsellerautorin und Gründerin des artgerecht-Projekts. Sie hat zahlreiche Bücher geschrieben, unter anderem auch “Geschwister als Team: Ideen für eine starke Familie“, das wir in diesem Artikel über Geschwister schon mal empfohlen haben.
Entthronung: “Am wichtigsten ist Verständnis für das große Kind.”
Liebe Nicola, wenn Kinder ein Geschwisterchen bekommen ist das oft nicht so einfach. Welche Reaktionen gibt es? Was müssen Eltern wissen?
Jedes Kind reagiert unterschiedlich, was besonders von seinem Alter abhängt, in dem es ein Geschwisterchen bekommt. Für uns Eltern ist am Wichtigsten zu wissen, dass es normal ist, dass viele Kinder in eine Regression gehen. Das heißt, sie wollen vielleicht wieder auf den Arm, sind nicht mehr trocken, wollen wie ein Baby behandelt werden. Entwicklungsschritte, die sie eigentlich schon gemacht haben, wie zum Beispiel alleine anziehen, können Sie für eine Weile vergessen. Als Eltern haben wir oft den Impuls zu sagen:
Aber du bist doch jetzt das große Kind! Du kannst das doch!
Genau das Gegenteil ist jedoch hilfreich: wenn das vermeintlich große Kind erlebt, dass es diese Rückschritte machen darf, ist ihm sehr geholfen. Wir spielen also Baby – und wissen, dass das auch wieder vorbei geht.
Von welchen Faktoren hängt es denn ab, wie stark ein Kind reagiert?
Es hängt stark vom Altersabstand zwischen den Geschwistern ab, das sagt uns die Forschungslage, die ich in meinem Buch „Geschwister als Team“ dargestellt habe. Wenn ich selbst mit zwei Jahren noch extrem abhängig von meinen Bindungsperson bin, trifft mich ein noch abhängigerer Säugling besonders hart. Es hängt auch vom Temperament des Kindes ab. Manche Kinder können mit zwei Jahren ihre Bedürfnisse schon sehr gut zurückstellen, anderen fällt es deutlich schwerer und sie brauchen mehr Zeit.
Auch die Umstände spielen eine Rolle, wenn meine Hauptbezugsperson nach Ankunft des Babys erst mal drei Wochen von der Bildfläche verschwindet, weil sie plötzlich ins Krankenhaus muss, kann das für die Kinder belastend sein.
Was können Eltern denn konkret tun, um Kinder vorzubereiten?
Wir sollten vor allem für die erste Zeit unbedingt für viel Hilfe sorgen, damit die Hauptbezugsperson der Kinder nicht in die Überforderung kommt, ein regredierendes Kleinkind und einen bedürftigen Säugling versorgen zu müssen. Das gibt Stress und schlechte Stimmung – das ist für alle nicht schön. Wir sollten dem Kind die Situation außerdem aus seiner Sicht erklären: du wirst große Schwester oder großer Bruder. Statt: Mama und Papa bekommen noch ein Baby. Es hilft auch, nichts zu beschönigen:
Babys machen sehr viel Arbeit und brauchen viel Aufmerksamkeit, aber wir kriegen das hin.
Wir sind ehrlich, aber zuversichtlich, wir beziehen das Kind ein, behalten aber die Verantwortung bei uns. Wenn möglich, lassen wir das Kind Sachen mit entscheiden oder aussuchen und sprechen möglichst früh nicht von „dem Baby“, sondern von einem kleinen Menschen, der vielleicht auch schon einen Namen hat oder von „dein Bruder/deine Schwester“.
Was kann man machen, wenn die Krise trotz aller Vorbereitung groß ist?
Am wichtigsten ist Verständnis für das große Kind. Wo immer möglich, sollten wir ihm deutlich machen, dass wir seine Situation verstehen und bei ihm sind.
Dann gibt es ganz praktische Dinge: während wir das Baby stillen, können wir mit dem großen Kind über Handzeichen leise kommunizieren, damit das Baby einschläft. Ein Klassiker ist besonders wichtig: Wenn das Baby schlafen soll und das große Kind leise sein muss, müssen wir allergrößtes Verständnis aufbringen, wenn es den Impuls laut zu sein einfach noch nicht unterdrücken kann. Egal wie vernünftig es wirkt, wir können es von einem Kleinkind einfach nicht erwarten.
Wir sollten dem großen Kind immer kommunizieren, dass es auch wichtig ist:
Hör mal, dein kleiner Bruder weint und braucht mich, komm wir gehen zusammen hin, ich will dich ja nicht einfach alleine lassen.
Oder: „Deine kleine Schwester ruft nach uns, aber ich glaube es ist noch nicht so dringend. Wir beide machen das hier jetzt noch zu Ende, ich glaube so lange kann sie schon noch warten.“ So erlebt das Kind, dass es immer noch einen wichtigen Platz in der Familie hat
Du hast schon gesagt, dass man sich Hilfe holen soll. Wie kann das Umfeld konkret unterstützen?
Bei artgerecht nennen wir es das Dorf, und dieses artgerecht Dorf kann uns sehr viel unterstützen! All diese Menschen sollten vollkommen für das große Kind da sein, mit ihm spielen, aushalten können, dass es klein sein will und vielleicht bedürftig und verletzlich, jammerig und wütend ist in dieser Phase. Verständnisvolle große Menschen, die nicht sagen: „Jetzt bist du doch ein großer Bruder, reiß dich mal zusammen!“ Sondern: „Ich verstehe, wie du dich fühlst, komm in meine Arme wir machen etwas besonders Schönes“, sind Gold wert.
Spielt diese Phase eine Rolle für die spätere Geschwisterbeziehung?
Selbstverständlich! Fragt man erwachsene Menschen mit Geschwistern, können sie sich alle mehr oder weniger an das Gefühl erinnern, dass da plötzlich jemand anderes war, auch wenn sie noch sehr klein waren.
Wenn ich durch diese Phase beschützt und gut begleitet gehen konnte, in dem sicheren Gefühl, dass ich mich trotz des kleinen Geschwisterchens in meinem Tempo entwickeln durfte, dann können Kinder gestärkt daraus hervor gehen. Wenn ich aber zu stark zurückstecken musste und dafür noch nicht bereit war, bleiben Spuren davon. Viele Erwachsene sind heute noch entweder sauer auf ihre kleinen Geschwister, weil sie plötzlich ihre Hauptbezugsperson teilen mussten oder sie lieben einander heiß und innig, weil sie gut durch diese erste Phase durchgekommen sind (oder es später aufgearbeitet haben). In meinen artgerecht Büchern steht der Eltern-Energieerhaltungssatz und er besagt: Es lohnt sich immer, frühzeitig Energie in Kinder zu investieren, da es sich langfristig auszahlt. Das gilt auch hier.
Geschwister haben einander noch, wenn wir Eltern schon lange nicht mehr sind und die Forschung zeigt, dass sie gesünder und glücklicher alt werden, wenn sie ein enge, tragfähige Beziehung entwickeln konnten. Der Gedanken, dass meine Kinder einander Wärme und Halt geben und zueinander halten, wenn ich schon längst zu Staub zerfallen bin, hat mich dieses Buch schreiben lassen – es ist das Schönste, das ich mir vorstellen kann.
Das stimmt. Das ist ein schöner Gedanke! Danke, Nicola!
Foto: Jess Zoerb