Corona anderswo: Berichte aus New York
Den Anfang macht Marion, eine spannende Frau, die mi zusammen mit ihrem Sohn Vito, 12 in Brooklyn lebt. Marion arbeitet als Producern, setzt sich zum Beispiel gerade für ein Projekt ein, dass Restaurants für Krankenhäuser kochen – ähnlich wie “Kochen für Helden” in Deutschland. Dabei geht es ihr auch darum, dass Restaurants wieder Leute einstellen können, in den New Yorker Restaurantküchen arbeiten viele undocumented immigrants, die die Krise natürlich extra hart trifft.
Bühne frei für Marion:
Corona schlich sich leise an, explodierte gefühlt mitten in unserem Gesicht und jetzt sind wir das weltweite Epizentrum der Pandemie. Das fühlt sich manchmal schon sehr seltsam an – und es gibt immer mal wieder Momente, in denen es auch Angst macht.
Es begann ganz langsam. Ich selbst war im Februar noch in Deutschland, dort sprach man schon über diesen mysteriöse Virus. Freunde aus Hongkong kamen zurück nach Deutschland und erzählten mir, dass sie jetzt erstmal zwei Wochen in Selbst-Quarantäne gehen müssten. Ich fand das damals total übertrieben und war schon fast sauer, dass ich sie nicht sehen konnte. Am Sonntag vor Rosenmontag flog ich nach NY zurück – kurz darauf knallte es in Heinsberg. Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie ansteckend dieser Virus sein musste.
Hände waschen wurde essentiell, und das 20 Sekunden ( 2x Happy Birthday singen) lang und immer öfter am Tag. Unterwegs hatten wir immer Handsanitizer dabei, mein Sohn hatte seine kleine Version an seiner Schultasche angebracht. Das haben wir alles gemacht, wie auch schon zuvor bei Grippewellen, aber diesmal fühlte es sich irgendwie anders an.
Und ich dachte an diese wahnsinnig lebendige Stadt, wo Millionen Leute sprichwörtlich aufeinander leben. Auf kleinsten Raum. Man fuhr noch mit der Subway. Aber der kleinste Huster wurde mit strafenden und ängstlichen Blicken bestraft. Ich ahnte, das wird nicht gut ausgehen…
“Sie sterben alle! Wie die Fliegen. Man kommt nicht hinterher. Bitte bleibt zuhause!!!”
Dann ging alles wahnsinnig schnell. In der Woche vom 9. März machten die ersten privaten Schulen zu. Am 16. zogen dann alle restlichen Schulen nach.
Fast alles machte zu, außer “essentiel businesses“. Das sind hier Supermärkte, drug stores / Apotheken, Baumärkte und liquor stores (Geschäfte in denen Alkohol verkauft wird).
Mittlerweile haben wir auch hier in NY State eine Maskenpflicht.
Wir saßen zuhause und schauten wie rasant die Fälle stiegen. Meine Freundin, eine Notfall-Ärztin, erzählte mir von den Fluten von Menschen, die ins Krankenhaus kamen. Fast alle älteren Menschen starben sehr schnell. Sie sagte: “Sie sterben alle! Wie die Fliegen. Man kommt nicht hinterher. Bitte bleibt zuhause!!!” Das war schon ziemlich gruselig. Wir sahen die Kühllaster vor den Krankenhäusern. Sie wurden immer mehr… Stand heute sind es schon fast 20.000 Menschen, die alleine in New York an Covid-19 gestorben sind.
Mittlerweile sind wir in der achten Woche und wir gehen wirklich sehr selten aus dem Haus. Man versteht hier schon ganz genau, dass das wirklich die einzige Möglichkeit ist, den Virus einzudämmen. Und so langsam zeigen sich die ersten Erfolge. Bisher sind es kleine Erfolge, wie anstatt über 700 Tote am Tag nur noch 400, die Krankenhauseinlieferungen gehen zurück. Die Anzahl derer, die Beatmungsgeräte brauchen, geht zurück. Das sind die kleinen Erfolge, die mich langsam aufatmen lassen. Aber wir wissen auch, wenn wir hier in NYC jetzt lockern würden, dann würden diese Erfolge ganz schnell zunichte gemacht. Also bleiben wir weiter zuhause.
Wir haben es gut. Wir haben ein Haus mit Garten. Nicht riesig, aber wenigstens kann man mal raus und sich in die Sonne setzen.
Mein Sohn und ich haben uns gut an das remote learning gewöhnt. Die Schule macht viel, damit es den Kindern gut geht und es auch Spaß macht, von zuhause aus zu lernen. Screen time ist nun essentiell. Die Kinder vermissen ihre Freunde wahnsinnig und haben wenigstens durch Facetime, dem Programm Houseparty oder Zoom das Gefühl, zusammen zu sein.
Alle machen das Beste draus.
Viele Freunde, die die Möglichkeit haben, sind rausgefahren – nach Long Island oder Upstate, in ihre Sommerhäuser, oder sie haben sich eins gemietet. Für mich war das nie eine Option. Auch wenn wir hier das Epizentrum sind, fühle ich mich hier wohl. Und irgendwie auch sicher.
Natürlich macht man sich Gedanken: was passiert, wenn es mich erwischt. Wer passt auf meinen Sohn auf, wer kümmert sich um unsere Katzen, habe ich im schlimmsten Fall eine gute Gesundheitsbetreuung hier oder sollte ich besser nach Deutschland, wo alles nicht so schlimm ist und die Krankenhäuser viel besser aufgestellt sind?
Aber dann ist es halt doch mein Zuhause hier… In meinen eigenen vier Wänden fühle ich mich wohl, fühle ich mich sicher. Und auch, wenn die Zahlen angsteinflößend sind und niemand sich mehr trifft, sind die Leute so wunderbar positiv hier.
Alle sagen NY ist tough, und es stimmt auch!! Die Menschen hier lassen sich nicht leicht unterkriegen. Sie geben nie auf. Und es gibt diese Stimmung in dieser Stadt, grundsätzlich, aber besonders jetzt, die man nicht beschreiben kann. Es ist ein Miteinander. Das Gefühl, nicht alleine zu sein. Und dass es, was auch immer kommen wird, ein Licht am Ende des Tunnels geben wird.
Man merkt das besonders, wenn wir jeden Abend um 19:00 nach draußen gehen und klatschen, wir klopfen mit Kochlöffeln auf Töpfe, holen die Bongos raus und machen so viel Lärm wie möglich. Der Applaus ist für alle health care workers, die gerade für uns alle an der Front sind. Das ist wahnsinnig emotional und wirklich alle, alle, alle machen mit.
Viele Freunde in Deutschland halten mich für bescheuert, wenn ich ihnen das erzähle. Man sollte doch das Pflegepersonal lieber besser bezahlen, davon hätten sie mehr. Stimmt alles, aber solange das nicht so schnell umzusetzen ist, klatschen wir.
Amerika kann wahnsinnig pathetisch sein, komplett irre wirken, mit seinem furchtbaren Präsidenten. Aber wir hier in NYC glauben an uns, sind heilfroh über den besten Gouverneur, den man gerade an seiner Seite haben kann, und kämpfen weiter. Um jedes Leben. Da gibt niemand auf. Denn dafür steht New York und dafür stand es schon immer. TOUGH and LOVING! Und ich würde nirgendwo auf der Welt gerade lieber sein, trotz allem.
Der zweite Bericht kommt von meiner Freundin Sam, die ich noch vor eineinhalb Jahren besucht habe. Wenn ich jetzt daran denke, wie wir damals durch die überfüllten Straßen in Chinatown gelaufen sind, bekomme ich Gänsehaut. Jetzt sieht es dort ganz, ganz anders aus. Sam lebte damals mit ihrem Partner Simon und Tochter Sophie im 72. Stock im Frank Gehry Gebäude in Downtown Manhattan- mit Blick auf die Freiheitsstatue. Mittlerweile ist die kleine Familie in Williamsburg, Brooklyn.
Bühne frei für Sam:
Die alten Griechen unterschieden zwei Begriffe von Zeit: Chronos, gemessen in Sekunden, Minuten, Stunden, Monaten und Jahren. Historisch wurde dieser Zeitbegriff meist durch das Bild eines müden, buckligen und bärtigen Mannes mit Sense und Sanduhr symbolisiert und oft mit Konflikten und Problemen gleichgesetzt.
Der andere Zeitbegriff, Kairos, stand für die heilige Zeit zum Beobachten und Nachdenken, und bezog sich auf den richtigen oder perfekten Moment, in dem sich Möglichkeiten auftun, die unendlich scheinen und außerhalb linearer Vorstellungen von Zeit und Raum zu existieren scheinen. Und genau diesen Begriff versuche ich gerade auf dieser Zeit anzuwenden.
Seit über 15 Jahren New Yorkerin zu sein bedeutet für mich, immer in Eile und immer vergesslich zu sein und eine Vielzahl von Rollen unter einen Hut bringen zu müssen: Berufstätige Frau, Mutter, Partnerin, gute Freundin und dann noch meine ganz persönliche Identität mit all meinen Interessen, meiner großen Lust, Dinge zu entdecken, sowie dem Bedürfnis, für mich zu sein. Aber das schnelle Tempo, das ständige Getriebensein, hat es mir so gut wie nie erlaubt, einen Moment lang zurückzutreten und innezuhalten. Es sei denn, ich habe mich aktiv darum bemüht und das kam – ehrlicherweise – nur selten vor.
Nachdem ich meine Gedanken also neu sortiert hatte, habe ich beschlossen, diese neue Realität zu akzeptieren. Den Überfluss an Zeit habe ich schon bald zelebriert, inspiriert durch die Natur, wilde Tiere und andere Kräfte, die aus der derzeitigen Situation schon jetzt ihren Nutzen ziehen. Oder, anders gesagt: Ich habe begriffen, dass es nicht die Pandemie ist, die mich zwingt, innezuhalten, sondern dass es eher so ist, dass New York mir zum ersten Mal überhaupt eine Pause gönnt.
Versteht mich nicht falsch: Es ist schrecklich, dass hier so wahnsinnig viele Menschen sterben und ich vermisse die Stadt, die ich vorher kannte. Und doch habe ich eine leidenschaftliche Hassliebe zu ihr – jetzt mehr denn je. Und ich könnte viele Seiten mit der Traurigkeit und Verzweiflung füllen, die ich für mein New York jetzt fühle. Aber mich daran zu erinnern, dass meine Mitbürger in dieser Stadt sehr widerstandsfähig sind, dass sie Kämpfer und keine Grübler sind, bestärkt mich darin, an dieser Stelle etwas anderes zu schreiben. Mein traumhaftes Wunderland voller Anregungen, Lärm, Interaktion, Energie, Bars, Restaurants, Kultur und eben vor allem den vielen Menschen, mit denen man immer in Berührung kommt, ob man es manchmal will oder nicht. Nie alleine und doch immer irgendwie merkwürdigerweise meistens anonym. Ich bewundere die Unvollkommenheit dieses Chaos und ich vermisse es sehr.
New York gibt mir gerade die Gelegenheit, die Luft anzuhalten und etwas zu ruhen, ohne den chaotischen Traum verlassen zu müssen. Und, das sehe ich in vielen meiner Beziehungen, es ist offenbar manchmal notwendig, sich zu vermissen, um sich wieder wertzuschätzen. Die Stadt voller Energie, die mich genährt hat, hat sich in einen geisterhaften Ort verwandelt und doch genieße ich die Ausflüge mit meiner Tochter durch die leeren Straßen, dass wir bummeln und alles aus einer anderen Perspektive betrachten können. Wir lieben unsere Spaziergänge zum Wasser am meisten. Der East River Park fühlt sich an wie ein kleines Stück Urlaubsinsel, wo alles noch in Ordnung ist. Anwohner gehen mit ihren Hunden Gassi, treiben Sport oder spielen mit ihren Kindern und sind dabei so respektvoll, alle halten Abstand. Sie schaffen es sogar irgendwie, durch die Maske hindurch zu lächeln. Und dann ist da noch das Panorama der Skyline, das wir gemeinsam bestaunen können. Wir werfen Steine in den Fluss und sprechen mit jedem Wurf aus, was wir an unserer Heimat lieben und wie wir sie mit diesen neuen Erinnerungen und etwas Abstand wahrnehmen werden.
Unsere Alltagsroutine ist jetzt langsamer denn je: Wir genießen es, als Familie zu prokrastinieren. Wir machen Fantasie-Figuren aus Knete, während wir Pfannkuchen zum Frühstück braten und schließlich durch die ganze Wohnung tanzen, während wir uns die Zähne putzen und uns anziehen. Das würde in unserem Haushalt normalerweise nur am Wochenende passieren. Sophie liebt es, dass wir mehr zu Hause sind und hat ihren zweiten Geburtstag mit uns als einsamem Trio und sehr wenigen, aber kreativen und durchdachten Geschenken, sehr genossen. Ich glaube zwar, dass die Alternative, 20 Kinder, die durch die Wohnung rennen, auch sehr spaßig gewesen wäre – aber vielleicht etwas stressiger als diese bewusste Zeit mit meinem Mädchen.
Natürlich muss ich auch erwähnen, dass es sehr anstrengend und nervenaufreibend sein kann, so viel Zeit miteinander zu verbringen. Aber wir führen uns dann vor Augen, was für ein Luxus es ist, drei Mahlzeiten am Tag täglich gemeinsam zu essen und sich zwischen den Meetings in den Arm nehmen oder kuscheln zu können. Oder wieviel Glück wir eigentlich haben, dass wir auch in dieser Zeit nicht auf Berührungen, Umarmungen und das Umsorgtsein (körperlich und mental) verzichten müssen, dass wir in dieser verrückten Alternativwelt nicht isoliert sein müssen.
Sicherlich werden wir nach dieser Zeit etwas mehr Abstand voneinander brauchen, ehe wir einander wieder vermissen, aber so ist der Kreislauf eben. Jetzt gerade nehmen wir es einfach nur an. Meine Familie nährt mich gerade – das war lange Zeit die Aufgabe meiner Stadt, in der ich zwar nicht geboren wurde, für die ich mich aber entschieden habe. Und es ist nur fair, dass sich New York auch mal mit meinem Team abwechselt.
Es ist so wunderbar, mit Simon und Sophie zu spielen und in den Tag hineinleben zu können und dabei zeitweise das Erwachsensein zu vergessen. Sorglos in unserer Blase zu sein, ohne die Sekunden, Minuten zu zählen und einen ganzen Monat im Voraus zu planen, damit unsere Tage halbwegs organisiert verlaufen. Der einzige Termin, der derzeit täglich für uns zählt, ist der um sieben Uhr abends, wenn wir vor die Tür gehen und dem medizinischen Personal und den Menschen in systemrelevanten Berufen danken und applaudieren, für die, die New York mutigen Herzens am Laufen halten.
Aber tatsächlich, und ich bin mir sicher, dass es allen anderen auch so geht, jubeln wir auch für die Menschen in unserem Umfeld, die von der Krise betroffen sind und stark bleiben, wir jubeln für diejenigen, die sich etwas weniger schwach und einsam fühlen, wenn sie uns hören, diejenigen, die Fremden, Nachbarn, Familie und Freunde sind und mit denen uns diese Erfahrung verbindet, auch wenn wir sie physisch gerade nicht sehen können. Wir sind alle gemeinsam in dieser Krise, in unmittelbarer Nachbarschaft, als Gemeinschaft. Wir klatschen für uns selbst, dafür, dass wir einen weiteren Tag gesund geblieben und nicht durchgedreht sind, dafür, dass der Tag vielleicht nicht mit Produktivität, aber mit Lachen, Liebe, Geduld, Ruhe und Dankbarkeit gefüllt war. Das ist der Moment, in dem wir die Energie, den Lärm und die Stimmung, die wir vermissen, kurzzeitig wiederherstellen. Wir kriechen aus unseren Wohnungen auf die Dächer und Terrassen oder hängen Töpfe und Pfannen aus den Fenstern und erfreuen uns wie verrückt daran, alle daran zu erinnern, wie das Leben hier mal war und wieder sein kann. Die Lebenslust der New Yorker ist immer noch hier. Sie wartet nur, bis das Schlimmste vorbei ist.
New York mag gegenwärtig das Epizentrum des Corona-Virus sein. Aber es ist auch, und für mich war es das schon immer, das Epizentrum eines so diversen wie gemeinschaftlichen Kollektivs von Menschen voller Interessanten und sehr berührenden Lebensgeschichten. Das wird sich nicht ändern, auch wenn sich das Leben zur Zeit nicht auf den Straßen abspielt.