Das Zeitgefühl im Leben mit Kleinkindern

Eine der häufigsten Binsen, die mir mit auf den Weg gegeben wurden, als ich das erste Mal schwanger war, lautete: "Genieße es, viel Zeit zu haben". Lange Frühstücke im Bett, Abende mit Netflix-Bingen und Pizza auf dem Sofa, ungestört, stundenlange Bade- und Beautysessions am Wochenende: All das sollte laut den Ratschlag-Gebern der Vergangenheit angehören, sobald erst einmal mein Kind auf der Welt war. Für immer. Oder sehr, seeeehr lange. Nun ja, daraus spricht natürlich auch ein bestimmtes Verständnis von Elternschaft. Aber auch wenn es sich für mich etwas anders darstellte, so hat sich doch der Wert, das Gewicht und das Empfinden von Zeit fundamental gewandelt, seitdem ich Mutter bin.

Ein Freund sagte mir einmal, als ich ihn fragte, was er sich am meisten wünscht: “Mehr Zeit”. Er ist vierfacher Vater und dieser Wunsch absolut nachvollziehbar. Aus meiner heutigen Perspektive. Denn damals, als er das antwortete, war ich Single und weit davon entfernt, über Kinder nachzudenken. Die Wochenenden lagen meist vor mir wie ein Meer aus Zeit. Zeit, die man formen konnte, wie man es wollte, ohne jemandem darüber Rechenschaft abzulegen oder zu fragen: “Kannst Du übernehmen, damit ich eine Stunde Laufen gehen kann?” Das klingt jetzt im Nachhinein natürlich himmlisch, aber ich weiß, dass meine Freiheit damals für mich nicht immer Segen war, sondern manchmal auch Fluch. Wenn ich wieder nichts Sinnvolles mit der Zeit angestellt hatte. Wenn eine Party schlecht und der Kater trotzdem mies war. Wenn Freunde spontan absagten und ich just an diesem Abend fix auf Geselligkeit gepolt war.

Heute legt sich ein Weichzeichner über diese Zeit. Denn mit dem Wissen von heute wüsste ich ein leeres Wochenende von damals so gut zu füllen. Aber leider kann man im echten Leben nicht auf Zeitreise gehen, oder, um eine weitere Binse zu bemühen: Man steigt nie zwei Mal in den selben Fluss. Zwar haben sich die Warnungen, dass ich “nie wieder” so viel Zeit haben werde, wie vor dem Kind, nicht ganz so drastisch bewahrheitet – ein ganzer Tag für mich fühlt sich heute endlos an, und ist auch möglich, wenn man einen Partner hat, der weiß, wie wichtig eine Auszeit ist – aber trotzdem habe ich mittlerweile den Eindruck, als würden gewisse Wünsche, Vorhaben und im schlimmsten Fall auch Bedürfnisse gestundet.

Früher ein paar Tage, heute einen Monat

So richtig extrem ist das zu spüren, seitdem unser Kleiner in der Kita ist. Denn jedes Mal, wenn er krank wird, fliegt mein sorgsam geplantes Wochengerüst in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Der lange geplante Saunabesuch (als man das noch durfte!): Abgesagt. Wann ich den wahrnehme: unklar. Tage zum freien Schreiben, einmal die Woche, solange ich noch nicht wieder in Vollzeit arbeite: Hahaha, try again later. Oder never? Selbst der Plan, warme Wintersocken im Kaufhaus zu kaufen, weil das zu den Dingen gehört, die ich wirklich nicht gerne im Netz bestelle, entpuppte sich als kühnes Vorhaben und wurde nun schon drei Mal verschoben. Als ich vor einigen Wochen dann erst mit Hand-Mund-Fuß und dann mit einem Magen-Darm-Infekt flachlag, beides kam aus der Kita, verabschiedete ich mich von allen Vorhaben, die über das bloße Überleben und die wichtigsten Aufträge hinausgingen.

Seitdem bin ich deutlich entspannter. Ein guter Bekannter sagte neulich zu mir: Vielleicht ist jetzt einfach nicht der Moment für große Projekte, aber diese Zeit kommt auch wieder. Und das stimmt. Es gibt einen Unterschied zwischen Verschieben und Aufgeben. Manchmal verliere ich das aus den Augen, denn ich gewöhne mich noch daran, dass ich nicht mehr so selbstbestimmt handeln kann wie früher, dass jeder eigene Plan erst abgeglichen werden muss mit jenen des Partners und den Bedürfnissen des Kindes. Dass die Intervalle einfach länger werden, weil insgesamt weniger freie Zeitfenster da sind und sich so alles viel weiter nach hinten verschiebt.

Es fällt so schwer, im Moment zu sein

Tatsächlich sollten die Ratschlaggeber aus meiner Schwangerschaft insofern Recht behalten: Ich habe noch nie so viel über Zeit nachgedacht wie in diesem Jahr, in meinem ersten Jahr als Mutter (Isabel hat übrigens ähnliche Erfahrungen hier schon mal aufgeschrieben). Klar, das Offensichtlichste ist: Man hat weniger davon, sehr viel weniger. Aber das wird der ganzen Tragweite dieser radikal veränderten Zeitwahrnehmung nicht gerecht. Verfällt man durch den Alltag mit Kleinkind, Haushalt, Partnerschaft und Berufsleben nicht auch einfach in einen Modus, in dem man so selten im Moment ist, und sehr oft bei den Aufgaben, bei der To-Do-Liste? Manchmal wünsche ich mir einen Pause-Schalter, wenn ich mit meinem Sohn spiele. Damit ich mich wirklich darauf einlassen kann und nicht mental schon dabei bin, das Abendessen vorzubereiten. Meinem Freund gelingt das besser: Er schaltet eher ab und vergisst beim Spielen die Zeit. Dann gibt es eben später Essen und der Kleine quengelt dabei etwas mehr. Aber: So what? Ich weiß, dass dieser Druck auch ein Stück weit selbstgemacht ist und mein Anspruch an die perfekte Taktung nicht immer zielführend ist.

Deswegen versuche ich immer wieder, mehr im Moment zu sein. Weil die Zeit so rast, gerade in diesen ersten Jahren, und ich nicht möchte, dass ich durch mein Leben hetze und mich im Nachhinein mehr an den empfundenen Stress erinnere als an die Momente mit meinem Kind, die wirklich nicht mehr wiederkommen. Aber auch, weil dieses irre Corona-Jahr mir mal wieder eindrücklich gezeigt hat: Life is what happens while you are busy making other plans. Und auch, wenn das schwer fällt, weil Pläne machen ja auch oft etwas Schönes ist, versuche ich gerade, nicht zu sehr in diesem Modus zu sein. Vielleicht auch, weil die Zukunft sich selten so ungewiss angefühlt hat und es jetzt umso wichtiger ist, bei der Gegenwart zu bleiben, bei dem, was man formen und gestalten kann.