“Wir müssen etwas an unserer Sicht auf Elternschaft ändern!” zum neuen Buch von Susanne Mierau

Susanne Mierau war eine der ersten "Erziehungsprofis", denen ich gefolgt bin. Und sie hat mich so oft abgeholt. Weil sie mit viel Fachwissen daherkommt - aber nie bewertet, oder abwertet. Weil sie nie sagen würde: "Wie kannst du das deinem Kind antun?" oder "Das Kind wird einen Schaden davontragen!" Sondern stattdessen gezielt nachfragt, klug argumentiert statt belehrt und bei alldem immer gütig bleibt. Eine tolle Frau! Deshalb freuen wir uns sehr, dass wir heute exklusiv einen Text aus ihrem neuen Buch "Frei und unverbogen" veröffentlichen dürfen. Es erscheint heute! 

Darin geht es um die Kunst, ein Kind wirklich bedingungslos so anzunehmen, wie es ist. Susanne beschreibt, wie es Eltern gelingen kann, ein Verständnis für die kindlichen Bedürfnisse aufzubauen, das im Alltag funktioniert. Dabei ist es natürlich auch wichtig, sich von eigenen negativen Erfahrungen und gesellschaftlichen Vorstellungen frei zu machen. Genau darum geht es in dem Kapitel, das wir gemeinsam ausgesucht haben. Ich finde diesen Text SO wichtig! 

Denn wie oft schreiben auch bei uns LeserInnen über vermeintliche Fehler, die Eltern machen und gemacht haben. Eltern (insbesondere Mütter) werden belehrt und beschämt für ihr Verhalten. Und auch für das Verhalten ihrer Kinder. “Das Kind ist ein Spiegel deiner selbst”, “die Mutter ist völlig überfordert, kein Wunder, dass das Kind auffällig ist”. Wie oft werden Eltern für das Verhalten ihrer Kinder verantwortlich gemacht, das ganz oft auch einfach völlig normales Kinder-Verhalten ist, von unserem Umfeld aber als “störend” und “unangenehm” empfunden wird.
Eltern müssen nicht unfehlbar sein, und vielleicht sollten viele Menschen da draußen auch ein bisschen besser lernen, wie Kinder so drauf sind, was sie für Bedürfnisse haben, und dass sie ihren Gefühlen manchmal freien Lauf lassen (müssen) und das ganz normal ist. Aber lest selbst, was Susanne dazu zu sagen hat! 

Eine neue Fehlertoleranz entwickeln

Um dieser Frage schon entlastend vorzugreifen: Nein, wir haben nicht alles falsch gemacht, aber Eltern machen immer auch Fehler auf die ein oder andere Weise. Und Kinder sind glücklicherweise neben aller Verletzlichkeit und aller Bedeutung eines psychisch gesunden Aufwachsens auch recht robust und vertragen viel mehr, als wir manchmal denken. Es geht gar nicht darum, dass Eltern alles richtig machen müssen. Auch die Forschung belegt, dass Fehler nicht nur normal sind, sondern in gewissem Rahmen sogar wichtig. Wir müssen dabei aber beachten, dass das, was einzelne Personen ertragen können, ohne einen Schaden davonzutragen, unterschiedlich sein kann: Resilienz ist abhängig von persönlichen Eigenschaften und Umweltfaktoren, die auch im Wandel sind, wodurch sich unsere Fähigkeit, mit belastenden Situationen umgehen zu können, im Laufe der Zeit verändert. Resilienz ist nichts, was man hat oder nicht hat, sondern etwas, das sich ändern kann. Deswegen ist es wichtig, mögliche Problemfelder weitestgehend zu beseitigen – an den Stellen, wo es möglich ist. Es kann nur gut für die ganze Gesellschaft sein, wenn Gewalt (in der Familie) weniger wird, während es durchaus negative Auswirkungen hat, Gewalt aufrechtzuerhalten oder sogar weiter zu begünstigen.
Wir müssen als Eltern also sehen: Wo kann ich etwas anpacken, wo kann ich persönlich beginnen? Und dabei ist es wichtig, dass wir uns selbst gegenüber gütig, wertschätzend und tolerant sind. Denn bevor wir an unseren Handlungen etwas ändern, müssen wir etwas an unserer Sicht auf Elternschaft ändern: Wir brauchen eine neue Fehlertoleranz für Eltern und alle Menschen, die mit Kindern umgehen.

Nach all dem, wie Kindheit bisher gestaltet war, wie sie gelebt wurde und wie Kinder bis heute gesehen werden, ist es unmöglich, von Eltern einzufordern, perfekt gewaltfrei und absolut bindungs- und bedürfnisorientiert mit Kindern umgehen zu können.

Das Verschweigen dieses Umstands, der Druck bei vermeintlichen Fehlern und die Tabuisierung eigener Schwächen ist so groß, dass Eltern immer weiter in den privaten Raum der Familie gedrängt werden. Wer heute in einer Facebookgruppe postet, dass er Probleme hat, die eigene Wut zu kontrollieren, wenn das Kind wütet und schreit, bekommt unter Umständen Antworten wie »Dann hättest du eben keine Kinder bekommen sollen!« oder »Dein Kind wäre in einer Pflegefamilie besser aufgehoben!«. Solche und ähnliche Reaktionen verstärken die Last der Eltern und erhöhen die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen. Und wie oft tun wir im öffentlichen Raum etwas – kaufen eine Brezel für das Kind beim Bäcker, eine Süßigkeit an der Nörgelkasse – nicht, weil wir das wirklich wollen und davon überzeugt sind, sondern um das kindliche Jammern zu beenden, weil die anderen uns schon schief anblicken?

Kim ist vier Monate alt und schreit sehr viel. Schon zwei Wochen nach der Geburt ging es los, und diese Zeit wurde für die Eltern zu einer großen Belastungsprobe. Die Geburt war anstrengend, auch die Schwangerschaft war nicht leicht, und Kims Mutter hatte durch den Tod ihres Vaters und die damit einhergehenden Erbschaftsprobleme viel Stress. Nun gibt sie sich die Schuld daran, dass dieser Stress, wie sie gelesen hat, zu Kims Schreien führt, und versucht zusammen mit Kims Vater, dieser Schuld durch sehr viel Liebe und Aufmerksamkeit entgegenzuwirken. Es ist ihr unangenehm, dass sie so früh schon »versagt« und Kim den Start so schwer gemacht hat. Sie traut sich auch kaum noch zu anderen, weil Kim so weint und weil sie sich schämt und die Ursache auf sich projiziert. Lange hat sie geglaubt, dass sie es einfach aushalten müsse und dass es irgendwann besser werden würde.

Erst als sie zufällig bei einem Besuch bei einer Vertretung des Kinderarztes auf ihre Erschöpfung angesprochen wird und dabei das viele Schreien thematisiert, wird der Weg zu einer Diagnose geebnet. Die Ärztin findet heraus, dass Kim unter einem Reflux leidet, der Schmerzen bereitet. Die Scham vor ihrem von Stress begleiteten Schwangerschaftsverlauf und die selbst zusammengesuchten Falschinformationen hatten dazu geführt, dass die Eltern nicht früher den Ursachen des Schreiens nachgegangen waren.

Auch wenn das Problem scheinbar auf Seiten des Kindes liegt, kann die mangelnde Toleranz gegenüber Fehlern beziehungsweise einem »falschem Verhalten von Kindern« uns darin bremsen, Hilfe zu holen. Natürlich gibt es – gerade mit älteren Kindern – auch Situationen, in denen wir feststellen, dass sich beim Kind eine falsche Verhaltensweise eingeschliffen hat. Unabhängig von dem Urteil, ob diese nun durch Eltern oder Freunde hervorgerufen wurde, führt allein das Vorhandensein eines problematischen Verhaltens bei Eltern oft zu Scham, und sie haben das Gefühl, versagt zu haben. Auch das kann die Bereitschaft hemmen, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass jede Verurteilung anderer Eltern die Gewalt weiterträgt und am Leben erhält. Wer heute verurteilt wird, nur weil er nicht genau weiß, welche Bei- kost/Windel/Schlafsituation für das Baby die richtige ist, traut sich morgen vielleicht nicht mehr, nach Alternativen zu Auszeiten zu fragen oder einer Freundin zu sagen, dass er sein Kind geschlagen hat, und sich dabei helfen zu lassen, dass das nicht wieder passiert. Wir brauchen dringend eine größere Fehlertoleranz und eine Fehleroffenheit, von der aus es möglich wird, neu zu starten. Denn wir alle machen Fehler, jeden Tag. Viele davon verlaufen sich ohnehin im sonst liebevollen Alltag, andere können wir aufrichtig entschuldigen, und bei den dritten brauchen wir Hilfe – aber ohne Abwertung.

Fehler und Unsicherheit sind normal

Die Geschichte der Kindheit und Elternschaft vermittelt ein Bild, dass wir Eltern immer wissend und unfehlbar sein sollten. Natürlich waren Eltern das weder damals, noch sind sie es heute. Während aber früher mit harter Hand durchgegriffen wurde und sich Gehorsam und Autorität allein durch den Status »Elternteil« legitimierten, ist es heute anders: Wir sind nicht mehr überzeugt davon, richtig zu handeln, nur weil wir eben Eltern sind. Wir sind überzeugt davon, richtig zu handeln, wenn die Erziehungshandlungen durch Ratgeber legitimiert werden oder es sich wirklich gut anfühlt, was wir tun. Wir wissen um unsere Unsicherheit und Fehlbarkeit. Doch auch das sehen wir als Fehler an, anstatt den Fortschritt darin zu erkennen: Unsicherheit bedeutet, dass wir uns Gedanken machen und reflektieren. Wir gehen nicht davon aus, auf alles eine eindeutige Antwort haben zu müssen und immer richtigzuliegen. Anstatt dies positiv zu sehen, lassen wir uns verunsichern und haben Angst, falsch zu handeln, zu enttäuschen. Zu wissen, dass Fehler normal sind, bedeutet auch, dass wir von dem Gefühl entlastet werden, richtig handeln zu müssen, unter Erfolgsdruck zu stehen.

Es ist nichts Schlechtes, nicht sofort eine Antwort zu haben. Wir müssen nicht sofort reagieren, nicht sofort alles besser wissen. Wir können in Situationen, in denen wir unsicher sind, erst einmal nachdenken, Informationen einholen und dann handeln. Aus einem so erarbeiteten Handlungskonzept gewinnen wir Selbstbewusstsein und Stärke, die uns in der nächsten Situation tragen. Und auch Kinder lernen von unserer Fehlbarkeit: Sie erfahren, dass Fehler normal sind und wie mit ihnen umgegangen werden kann, dass sie nicht vertuscht oder durch Gewalt unterdrückt werden müssen, sondern dass Fehler es ermöglichen, sich selbst zu überdenken und im konstruktiven Miteinander neue Handlungsmöglichkeiten zu erproben.

Kurz: Sie lernen Flexibilität und Kreativität.

Auch aus Bindungssicht müssen Eltern nicht perfekt und unfehlbar sein. Aber es ist wichtig, dass wir insgesamt über die Zeit hinweg und in der Mehrheit der Situationen unseren Kindern vermitteln, dass sie von uns geliebt und respektiert werden und wir sie als ihre vertrauensvollen Bezugspersonen schützen und unterstützen. Dafür gibt es keine Maßeinheiten. Und es ist gut, dass es diese nicht gibt, denn Bindung ist kein Wettstreit und keine Leistung. Wir sollten nicht darauf fokussiert sein, heute noch schnell das Pensum für den Tag zu erfüllen, sondern einfach im Blick haben, ob sich unsere Kinder wohl und sicher fühlen.

Keine Angst vor Fehlern!

Fehler zu machen und sich einzugestehen ist nicht einfach. Be­sonders nicht, wenn wir durch die Last der eigenen Vergangen­ heit ein geringes Selbstwertgefühl haben und/oder das »Recht des Stärkeren« verinnerlicht haben und keine Schwäche zeigen wollen. Auch dann, wenn wir nie einen guten Umgang mit Kon­flikten und echte Diskursfähigkeit lernen konnten, fällt uns ein aufrichtiges »Es tut mir leid« zu sagen oder zu denken schwer. Wenn auch du Probleme mit dem Umgang mit Fehlern haben solltest, nutze diese Gelegenheit, um aufzuschreiben, wovor du Angst hast, wenn du Fehler eingestehst. Das Ziel ist natürlich, Fehler in Zukunft zu vermeiden, aber auf dem Weg dorthin ist es zunächst wichtig, anzuerkennen, dass wir sie machen, warum wir sie machen und warum uns der Umgang damit so schwerfällt.

Danke an Susanne Mierau und den Beltz Verlag! Das Buch könnt ihr ab heute im lokalen Buchhandel oder online bestellen.

Fotos: Ronja Jung