Warum es für mich keine “Halbgeschwister” gibt
Ich kann mich noch ziemlich gut erinnern, wie wir als Kinder untereinander in der Grundschule über Freunde und deren Familien sprachen – über ihre Eltern und Geschwister. Wer hatte noch eine große Schwester, einen kleinen Bruder und überhaupt…? Und so oft ist da dann der Spruch gefallen: “Naja, das ist nur die Halbschwester. Das ist ja keine richtige.” Auch ich habe ihn über andere Kinder gesagt. Wir unterschieden ganz klar zwischen den “echten” Geschwistern, bei denen also beide Elternteile gleich sind und Halbgeschwistern, die nicht wirklich zählten. Halbgeschwister waren ganz klar nicht so viel wert, wie ein “echtes” Geschwisterkind. Der Großteil der Eltern meiner Grundschulfreunde war damals zusammen. Es gab nur wenige nicht-normative Familienkonstellationen, zumindest war das der oberflächliche Eindruck.
Mein Sohn wächst da anders auf. Vielleicht sind es die fast 30 Jahre, die dazwischen liegen, vielleicht wird jetzt offener darüber gesprochen oder aber es ist doch der Land-Stadt Unterschied. Zumindest sind alternative Familienmodelle und Patchwork viel sichtbarer als noch damals, und gefühlt viel normaler. Vor Kurzem saß ich ich mit einem Freund meines Sohnes beim Abendessen (beide sind sieben Jahre alt) und wir sprachen darüber, warum ich nicht mehr mit dem Vater meines Sohnes zusammen bin. Ich zögerte kurz, versuchte, eine kindgerechte Erklärung zu finden, als der Freund meines Sohnes fragte: “Ah, vielleicht weil ihr andere Lebensentwürfe hattet?”. Wow, dachte ich. Genau. Und ich war froh, wie offen und unbelastet ich mit den Jungs über all diese Themen sprechen konnte. Aber zurück zu den Geschwistern, denn hier bin ich einfach nur so wahnsinnig froh, dass es in der Welt und unter den Freunden meines Sohnes normal zu sein scheint, nicht nur die normative Kleinfamilie zu kennen. Und offensichtlich wird nicht in Geschwister und Halbgeschwister unterschieden. Zumindest jetzt noch nicht.
“Nicht dein richtiger Bruder”
Es würde mir ein wenig das Herz brechen, wenn jemand zu meinem Sohn sagen würde, du nee, das ist nicht dein richtiger Bruder, das ist dein Halbbruder. Er kennt das Konzept von Halbgeschwistern nicht, und ich bin für jeden Tag dankbar, an dem das so bleibt. Für ihn ist sein Bruder einfach sein Bruder, den, den er sich so lange gewünscht hat. Vor kurzem sagte er sogar zu mir: “Mama, jetzt hast du Zwillinge. Mein Bruder und ich sind ja gleich.” Und ich war sehr glücklich darüber, dass er seinen Bruder einfach als seinen Bruder sieht (oder als seinen Zwilling, haha, bei sechs Jahren Altersunterschied).
Denn ich finde, genau wie man nicht “ein bisschen schwanger” sein kann, kann man auch nicht nur ein halbes Geschwisterkind haben. Geschwister sind Geschwister, basta.
Wenn wir als Erwachsene über Geschwister sprechen, die einen anderen Elternteil haben, kann ich noch ein wenig nachvollziehen, über Halbgeschwister zu sprechen, wenn es denn eine Rolle spielt. Wenn man vielleicht aufgrund der Familiengeschichte weniger Kontakt zu einem zweiten Kind des Vaters hat. Wenn man diesen Umstand erklären möchte – vielleicht ergibt es dann Sinn, den Begriff zu benutzen. Oder wenn Jahrzehnte später unbekannte Geschwister, Halbgeschwister, auftauchen. Oder auch wenn es um Erbschaftsrecht geht, kann es natürlich sinnvoll sein, von Halbgeschwistern zu sprechen.
Nur eine Halb-Familie?
Aber abgesehen von diesen Fällen, glaube ich, schafft der Begriff Halbgeschwisterkind nur Barrieren, wo keine sind oder sein sollten. Familie ist Familie. Geschwister sind Geschwister. Es ist doch nicht die eine Verwandtschaftsbeziehung mehr wert als die andere, oder? Und sollte nicht, wie so oft, die Deutungshoheit bei dem liegen, den es betrifft? Für meinen Sohn spielen die genauen Verwandtschaftsverhältnisse keine Rolle – für ihn zählt nur, dass ich die Mama von ihnen beiden bin. Und damit sind sie Brüder (er hatte auch schon unsere Katze als seine Katzenschwester bezeichnet, da ich ja die Katzenmama sei). Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, jeder kann Mama, Bruder oder Schwester sein, so lange es sich für die Beteiligten so anfühlt. Umgekehrt funktioniert das (leider?) nicht. Mit seinen Eltern kann man sich noch so sehr überwerfen, sie werden immer die Eltern bleiben, das Gleiche gilt für Geschwister.
Es scheint mir so, als sei diese Bezeichnung ein Relikt aus vergangenen Zeiten, zugehörig zu einer Sprache, für die Mama, Papa, Kind der Normalfall ist, und alles andere weniger wertig, eben nur halb-echt, Halb-Familie.
Und vielleicht bin ich, was dieses Thema angeht, einfach besonders empfindlich: Auch wenn es Quatsch ist, auch wenn ich eigentlich total darüber hinweg bin, zu denken, ich hätte meinem ersten Sohn keine “echte” Familie schenken können, so trifft es wohl doch einen wunden Punkt, der da ganz tief drinnen liegt. Wenn Halbgeschwister keine richtigen Geschwister wären, sondern eben nur halbe, hätte mein Sohn nie die Chance, eine echte Schwester, einen echten Bruder zu haben. Und wie unnötig und schade wäre das. Vor allem, wo er es so ganz anders sieht. Ich wünsche mir, dass das so bleibt. Das Familienidentitäten einfach das sind und so genannt werden, wie sich anfühlen.