Mein Kind wurde zu früh eingeschult
Ich kann mich noch gut erinnern, wie die Kindergarten-Erzieherin im Jahr vor der Einschulung zu mir sagte: Denkt doch mal übers Zurückstellen nach, der ist noch nicht so weit. Mich verunsicherte das damals total. Es war mein erstes Kind und es fiel mehr schwer, eine Entscheidung zu fällen.
Aber irgendwo habe ich mal gelesen: Es gibt keine falschen oder richtigen Entscheidungen. Es gibt nur verschiedene Entscheidungen und Wege, die eingeschlagen werden – mit unterschiedlichen Resultaten. Rückblickend ist man natürlich meist schlauer. Meinem Kind geht es gut, aber im Nachhinein wäre ein anderer Weg sicherlich besser für ihn gewesen und hätte seinen Start ins Schulleben etwas leichter gemacht. Doch von vorne:
Levi wurde im Juni sechs Jahre alt. Im Sommer stand also die Einschulung an. Er war ein “Muss-Kind” und er war auch clever und gut drauf. Er konnte schon vereinzelt ein paar Buchstaben schreiben, aber er war nie ein Kind gewesen, das viel gemalt hat oder gern konzentriert bastelte. Auch die Vorschulaktivitäten in der Kita ließen ihn eher kalt. Deutlicher gesagt: Meistens hatte er keine Lust darauf. Es fiel mir schwer, zu visualisieren, dass er in einer Klasse sitzen sollte. Am Tisch. Längere Zeit. Ruhig schreiben, Aufgaben erledigen. All das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Meine Sorge wurden aber kleiner, da mir alle im Umfeld versicherten: Die erste Klasse sei eh noch sehr spielerisch, da bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen.
Die Erzieherin war sehr direkt
Im Mai jedoch sprach mich die Erzieherin direkt an: Ob es die Möglichkeit einer Rückstellung gäbe, er bräuchte auf jeden Fall noch ein Jahr. Erst war ich verdutzt und in mir regte sich der Leistungsdruck, mit dem ich auch aufgewachsen war. “Mein Kind ist nicht gut genug”. Es könnte eines der Kinder sein, die es “nicht schaffen”. Schrecklich! Dabei war ich eigentlich offen für ihre Einwände und tief in mir bestätigten sie ja auch ein Gefühl, das ich eh schon hatte: Levi war noch nicht bereit für die Schule. Das Umfeld inklusive meines Mannes reagierte allerdings anders: Natürlich sei der soweit! So ein bisschen hatte ich die Vermutung, auch hier spielt der Leistungsgedanke eine Rolle und der Druck, dass das Kind ins System passen muss (denn da mussten wir ja auch alle durch).
Mein Bauchgefühl blieb schlecht. Levi war einfach noch wahnsinnig verspielt. Außerdem war er für sein Alter eher klein. Emotional war er noch sehr fragil. Ihn schüttelten oft Wutanfälle. Er weinte oft, wirkte manchmal so zerbrechlich. Aber ich dachte auch, vielleicht ist das eben der nächst logische Schritt und wir müssen da durch? Vor allem: Er muss da durch? Man hat das ja so in sich: Da muss das Kind jetzt mal durch, sonst wird ja nix aus dem.
Und war das nicht einfach mein sanftes Mutterherz war, welches den Sohn (über-)behüten wollte? Im Nachhinein muss ich sagen: Ich hätte auf mein Gefühl hören sollen, wie so oft. Und ich glaube, dass die Sorge vorm vermeintlichen “Überbehüten” eher einem misogynen Narrativ geschuldet ist.
Mir selbst nicht zu vertrauen, zu denken, ich wäre zu “weich” ( wobei ich doch nur die Bedürfnisse meines Kindes im Blick hatte), all das sind noch schöne Reliquien aus einer Zeit, in der Kinder noch “erzogen” werden mussten. Mit einer Pädagogik, in der Kinder nicht als soziale Wesen auf die Welt kommen, sondern zurechtgestutzt werden müssen. Auch den mittlerweile als Scharlatan entlarvten “Kinderpsychologe” Michael Winterhoff kann man dieser Kategorie zuordnen. Seine These: Kinder werden zu Tyrannen durch unsere Erziehung auf Augenhöhe. Mütter seien generell zu soft mit ihren Kindern, es schade Kindern, wenn sie eine “zu enge” Bindung mit ihr aufbauen. Auch beliebt, wenn auch nicht mehr so klar formuliert ist, der Vorwurf der Gluckenmutter. Allerdings: Ich vertrete schon immer den Grundsatz, dass der, der mehr Zeit mit dem Kind verbringt, es auch besser kennt, ergo besser einschätzen kann, ob das Kind schulfähig ist – oder eben noch ein wenig Zeit braucht. Und der Elternteil das Kind eben, wie “eine Glucke”, vor der Außenwelt schützt.
Ich war zu dem Zeitpunkt hochschwanger, mein Mann war beruflich stark eingespannt. Er war, wie gesagt, auch ganz klar der Meinung, dass unser Sohn schulreif ist. Wenn ich ehrlich bin, fehlte mir also einfach auch die Kraft, für eine Zurückstellung zu kämpfen. Ich hoffte also auf die Schuluntersuchung.
Der Termin bei der Schulärztin
Levi war schon immer regelrecht gehorsam, was andere Erwachsene anging. Es gab sich immer Mühe und wollte alles richtig machen. Und er war kognitiv ziemlich fit, konnte gut zuordnen und kannte erste Buchstaben und Zahlen. Der Schuluntersuchungstermin lief also ziemlich reibungslos. Ich erzählte der Ärztin von den Einwänden der Kita-Erzieherin aber sie lächelte mich nur an, nachdem sie meinen Sohn zehn Minuten gesehen hatte, und sagte: “Nein, der kann in die Schule gehen.” Von der Ärztin kam also das Go. Aber sie sah ihn ja nur so kurz, und dass er richtig zählen und zuordnen konnte, machte ihn das schon “schulreif”? Was ist denn mit seiner emotionalen Entwicklung? Natürlich sind diese AmtsärztInnen erfahrende ÄrztInnen, das wollte und will ich gar nicht infrage stellen – und doch zweifelte ich an diesem “Testprozess”. Denn was genau im Kind vorgeht, wie seine ganz individuelle Situation und Entwicklung ist, das kann man nicht in der kurzen Zeit beurteilen, da bin ich mir sicher.
Was ich auch wusste und was keine Schulärztin wusste: Es stand ein Umzug bevor UND die Geburt seines ersten Geschwisterkindes – alles zeitgleich mit der Einschulung! All diese Dinge sind per se schon fordernd, aber alles zusammen machte mir Bauchschmerzen.
Es kam also die Einschulung. Kurz nach dem Umzug und kurz nach der Geburt des Geschwisterkindes. Der Tag selbst war wirklich schön und harmonisch. Natürlich war Levi stolz: die Schultüte, der große Ranzen, die Lehrerin erschien nett. Ich war kurz beruhigt. Die ersten Wochen waren dann aber hart. Er nässte sich oft ein, ich brachte ständig Wechselwäsche und er erzählte mir oft beschämt beim Abholen, wie er sich heimlich auf der Toilette umgezogen hatte. Er war komplett erschöpft nach der Schule, weinte viel, man merkte richtig, dass er Druck ablassen musste. All der Druck, der sich an diesen langen Tagen angestaut hatte…
Laut der Lehrerin war das mit dem Einnässen aber relativ “normal” bei Erstklässlern. Ihr machte der emotionale Zustand meines Sohnes eher Sorgen. Er wirke “tieftraurig”, ich werde nie vergessen, wie mich das bewegte. Aber ich war natürlich auch mit meinem Neugeborenen beschäftigt, die Nachmittage zogen so dahin. Ich hatte also genug um die Ohren, um das Thema zu verdrängen. Ändern konnte ich es nun ja sowieso nicht mehr.
Völlig überfordert
Immer wieder hatte ich in diesen Monaten das Gefühl, dass das Kind völlig überfordert war. Levi klagte manchmal über Atemnot, sagte er habe Angst, zu ersticken. Er war fahrig und launisch und wirkte ständig übermüdet. Man merkte, wie viel Kraft es ihn kostete, so viele Stunden am Tag “zu funktionieren”. Er fand dennoch ein paar Freunde und schien sich an immer mehr Tagen auch wohl zu fühlen. Ich merkte auch, dass ich recht streng mit ihm war in diesen Wochen. Ich hatte ja noch das Baby, mein Sohn kam mir plötzlich SO groß vor. Irgendwo habe ich gelesen, dass man gerade bei Jungs in diesem Alter dazu neigt, plötzlich zu hart mit ihnen zu sein und ich fürchte, ich bin in genau diese Falle getappt. Ich dachte sogar: Er muss jetzt auch alleine schlafen, die Schultasche packen, nachmittags noch zum Sportkurs gehen. Heute denke ich: wie ungerecht. Was er gebaucht hätte, wäre Unterstützung und Hilfe bei der individuellen Entwicklung gewesen.
Dann kam Corona. Ich war noch in Elternzeit und konnte das mit dem “Home Schooling” ganz gut auffangen, die Schule kümmerte sich auch wenig, aber wir erledigten die angeforderten Materialien so einigermaßen. Für ihn war die Corona-Zeit mit der vielen Ruhe und Familienzeit aber ein Geschenk. Er war definitiv eins der Kinder, die von den Schulschließungen profitiert haben.
Nun ist er in der dritten Klasse und leicht ist es immer noch nicht. Bei Elterngesprächen wird Levi als unkonzentriert und zerstreut beschrieben. Er kommt nur schwer mit dem Stoff mit. Er hat Probleme mit der Rechtschreibung und in Mathe. Für meinen Mann ist das Thema “Wiederholen” aber ebenso ein rotes Tuch wie “Zurückstellen”. Das passt nicht zu seinem Bild unseres Kindes. Zudem ist es auch so, dass Levi mittlerweile ein paar Freunde in der Klasse hat und auch im Hort. Und dass es für ihn eine große Belastung wäre, wenn er die Klasse wiederholen müsste. So wurschteln wir uns halt so durch.
Dennoch bin ich mir heute sicher, dass entweder der Zeitpunkt oder die Art der Schule keine gute Entscheidung waren. Und es ärgert mich, dass ich hier weniger Entscheidungsspielraum hatte und auch, dass ich nicht mehr gekämpft habe. Ein jahrgangübergreifendes Lernen, wie es das an vielen Berliner Schulen gibt, gab es leider an seiner Schule nicht. Dann wäre ein “Verweilen” viel einfacher gewesen. Die LehrerInnen an der Schule sind auch eher “alte Schule”, es ist eher Frontalunterricht, es wird gefühlt nicht so richtig auf Kinder eingegangen, die nicht gut stillsitzen können zum Beispiel. Ich denke, in einem emphatischeren Umfeld hätte Levi den Weg in die Schule vielleicht auch gepackt. So war es ganz schön hart. Und er muss nun jedes Jahr um seine “Versetzung” kämpfen, was auch einfach kein leichtes Los ist.
Klar, schulfähig an sich sind wohl die meisten mit sechs Jahren. Aber muss es deshalb sein, einfach nur, damit es in unseren Plan passt? Kann man nicht auch wirklich “schulbereit” sein? Ich plädiere ganz klar dafür, Kinder lieber noch ein Jahr Kind sein zu lassen, bevor, wie mein Opa zusagen pflegte, “der Ernst des Lebens” anfängt. Und ich traue Eltern generell auch zu, dass sie ihre eigenen Sorgen und Gefühle, das Kind nicht loslassen zu wollen zum Beispiel, reflektieren und damit differenzieren können, ob es hier um sie geht oder ums Kind.
Foto: CDC