Let’s talk about: Ego vor Solidarität oder “deine Armut kotzt mich an”

Ich habe da diesen einen Freund, der mir gelegentlich im Scherz zuraunt, womit ich diesen Post hier überschrieben habe: „deine Armut kotzt mich an“. Heute etwa, als wir telefonierten und darüber sprachen, wo wir uns denn zum Mittagessen treffen wollen und er bedeutete, seine Wohnung sei gerade nicht begehbar. Die Putzfrau sei da. Der Querverweis zur Armut war wiederum seine Reaktion auf meine daran anknüpfende Ansprache, bislang ja noch immer alles selbst geputzt zu haben.

Nun soll es hier nicht um die Frage gehen, inwieweit es angemessen ist, derlei Arbeit auszugliedern. Ist es bestimmt! Gerade für gestresste Eltern. Ich will auch nicht behandeln, warum ich noch selbst putze oder inwieweit ich es mitunter vielleicht verpasse, derlei Hilfe zuzulassen und abzugeben. Wie wichtig genau das ist, darüber habe ich ja hier schon einmal geschrieben.

Mir drängt sich gerade ein ganz anderes Thema auf und dafür steht „deine Armut kotzt mich an“ geradezu sinnbildlich, meine ich: Empathie nämlich. Und daraus entspringend: Solidarität.

Ich glaube, es war vergangene Woche, als ich in so einer geschlossenen Gruppe für Berliner Alleinerziehende regelrecht über einen Kommentar zu einem Beitrag gestolpert bin. Im initialen Beitrag beschrieb da also eines der Gruppenmitglieder folgende Begegnung: Sie habe da diese Freundin, auch eine Alleinerziehende. Kürzlich habe ihr genau diese Frau quasi die Freundschaft gekündigt. Und zwar, weil sie – die Postende – zu viel jammere über ihre heikle Situation als Alleinerziehende. Sie, das Freundschaft quittierende Gegenüber, sei gerade in einer glücklichen Beziehung und habe das Gefühl, sich von schlechten Einflüssen und deshalb auch von ihr als offenbar ohne Unterlass jammernde Freundin distanzieren zu müssen.

Ich war schon an dieser Stelle recht aufgeladen, aber meinen Senf dazu gegeben habe ich erst im Anschluss auf den Kommentar einer anderen Alleinerziehenden, die sinngemäß dies antwortete: Es sei nun mal so, dass positive Energie Positives anziehe (und im Umkehrschluss dieser Logik folgend: negative Gedanken Negatives). Es gälte also insbesondere als Alleinerziehende, sich nicht immerzu zu bejammern, sondern sich vielmehr aufzuraffen und stark zu sein. Sie würde in ihrem Leben im Übrigen auch jene Personen meiden, die zu negativ seien.

Ich war kurz geneigt ein zynisches „Amen“ auf jenen „Gesetz-der-Anziehung“-Einschub rauszuhauen, kommentierte dann aber das hier: „neoliberaler bullshit!“

Die Paradigmen der spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft

Gut – wahrscheinlich ist genau dieses Wortgebilde aus dem Eindruck einer vorausgegangenen Diskussionsrunde mit ehemaligen Antifa-Leuten in Kreuzberg 36 entstanden – in der Regel denke ich nämlich nicht nur zwischen den Vokabeln „Spätkapitalismus“ und „neoliberale Kackscheiße“. Aber hier schien mir genau dieser Querverweis doch sehr angebracht.

Ich will mich gar nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Ich gucke mir selbst allzu oft irgendwelche pseudo psychologischen Eso-Weltreisefamilien-Zuckerverzicht-Videos bei Youtube an und habe hier auf Littleyears ja auch bereits darüber geschrieben, wie ich selbst für mich das Thema Arbeit neu definiert habe – als vermeintliche mündige und absolut frei arbeitende Selbstständige. Aber mich beschleicht dieser Tage doch der Eindruck, dass hinter dieser mindfulness-Bewegung mehr steckt, als die allermeisten zu hinterfragen wissen.

Narzisstische Leistungssubjekte

Um mal wieder auf den Philosophen und Kulturwissenschaftler Byung Chul Han zu verweisen (über den ich hier schon einmal geschrieben habe):

Die Leistungsgesellschaft ist ganz von dem Modalverb Können beherrscht im Gegensatz zur Disziplinargesellschaft, die Verbote ausspricht und sich des Sollen bedient. Ab einem bestimmten Punkt der Produktivität stößt das Sollen schnell an seine Grenzen. Zur Steigerung der Produktivität wird es durch das Können ersetzt. Der Ruf nach Motivation, Initiative und Projekt ist wirksamer für die Ausbeute als Peitsche und Befehle. Als Unternehmer seiner selbst ist das Leistungssubjekt zwar insofern frei, als es keinem gebietenden und ausbeutenden Anderem unterworfen ist, aber wirklich frei ist es nicht, denn es beutet nun sich selbst aus, und zwar aus freien Stücken.

Ergo und nach Han:

Die Selbstausbeutung ist viel effizienter als die Fremdausbeutung, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht.

Was hat das nun mit dem beschriebenen Alleinerziehenden-Forum zu tun?

So sehr ich auch all die Empowering-Sinnsprüche dieser, unserer Tage gut finde möchte. Betrachtet man sie unter dem Eindruck Hans, könnte man meinen, sie seien vor allem Ausdruck eben jenen Leistungsgedankens. Und das ist insofern sehr makaber, als dass all diese „rise-and-shine“-Gurus ja geradezu predigen, wie zwingend es sei, sich von Zwängen zu befreien, während sie verkennen, dass sich hinter ihren Freiheits-Ideologien nicht minder viele Zwänge verbergen. Und sei es nur, wie Han schreibt, der Zwang des Könnens und damit als Ausschlussprinzip: scheitern zu dürfen.

Wer scheitert, ist außerdem selbst schuld. Es gibt niemand, der für sein Scheitern verantwortlich zu machen wäre. Es gibt auch keine Möglichkeit der Entschuldung oder Entsühnung mehr. [..] Diese Krisen machen deutlich, dass der Kapitalismus entgegen der weit verbreiteten Annahme (z.B. Walter Benjamins) keine Religion ist, denn jede Religion operiert mit Schuld und Entschuldung. Der Kapitalismus ist nur verschuldend. Er verfügt über keine Möglichkeit der Sühne.

Kurzum: Wir haben uns von den Ketten einer von Zwängen bestimmten Welt befreit, nur um uns neue Ketten anzulegen, während uns niemand mehr tröstend zur Seite steht: In dieser fabelhaften neuen Welt kann schließlich jeder alles. Wenn er nur im richtigen Mindset unterwegs ist.

„Es gibt keine strukturelle Probleme, nur singuläre Defizite“ – alles klar!

Ich würge ein wenig, während ich das schreibe, diese Weltsicht schließlich verkennt: dass nicht jeder aus seiner Haut kann. Der Jammernde vielleicht mitunter einen Grund hat. So wie die Alleinerziehenden in eben jenem Forum. Oder die Putzfrau meines eingangs beschriebenen Freundes, die mir vorhin erzählte, sie gönne sich ja nicht viel, aber bei Obst schaue sie nicht auf den Preis. Sie gehe putzen, weil sie ansonsten von ihrem eigentlichen Job nicht über die Runde käme.

Wer will sich erdreisten, diesen Menschen gegenüber zu treten und vorzusprechen, sie seien selbst an ihrem Dilemma Schuld? Vielmehr noch: Es gäbe keine strukturellen Probleme, nur singuläre Defizite und sie seien offenbar und eben nicht in der Lage, das zu erkennen und (finally) umsetzen.

Wann haben wir eigentlich angefangen, uns kollektiv von Menschen zu distanzieren, die schlecht drauf sind, denen es nicht gut geht, die vielleicht sogar in einer wie auch immer gearteten Krise stecken, per se einfach mit scheiß Umständen konfrontiert, oder gar in sie hineingeboren sind?

Gilt es nicht vielmehr, genau da hinzuschauen? Diese Menschen aufzufangen, ihnen beiseite zu stehen – als immer nur und immerzu nur um sich und sein eigenes Ego zu kreisen und bei der nächsten Meditation herauszufinden, wie man das eigene Mindset so optimieren kann, dass einem nur noch von allem Schlechten befreite Menschen begegnen?

Sich vom Leid abwenden oder die Vorstufen der Soziopathie

Ich kann und werde das jedenfalls nicht. Ich konnte noch nie an denen vorbeigehen, die es schlechter getroffen hat als mich. Missstände habe ich bereits als Kind sehr bewusst erlebt – etwa mit Obdachlosen konfrontiert – und das hat sich als Mutter eher zugespitzt.

Letztlich geht es mir hier auch um Werte und was ich an mein Kind weitergeben will. Julius wächst ohnehin schon in dieser von vermeintlich prekären Strukturen bereinigten Prenzlauer-Berg-Blase auf, wird hier kaum mit etwas anderem konfrontiert, als Kinder, deren Eltern selbstverständlich eine um die andere Finkid-Jacke kaufen – und samstags zum Großeinkauf mit dem SUV vorm Biomarkt parken. Ich versuche ihm deshalb sehr bewusst vorzuleben, dass man immer in der Verantwortung für sein Gegenüber steht. Dass es keinen Wert hat, nur um sich selbst zu kreisen. Dass es zum Beispiel gilt, sich da einzubringen, wo die Verhältnisse im Ungleichgewicht sind.

Marie hat vor kurzem so schön darüber geschrieben, dass sie sich für ihren Sohn wünscht, er möge sich seine Kindheit ein Stück weit bewahren. Das wünsche ich mir für meinen Sohn selbstredend auch. Er soll nicht ob der gesellschaftlichen Um- und Missstände ewig über sein privilegiertes Leben darben. Aber ich wünsche mir, dass aus ihm ein wahrhaftig mündiger Mensch erwächst – der kritisch zu hinterfragen weiß, was alle anderen ihm als Ideologie zu verkaufen ersuchen. Und sei es das dieser Tage so häufig postulierte Evangelium, es komme immer nur auf einen selbst an.

 

Titelbild: Poster vom Etsy-Shop picapix