Bitte & Danke – muss man sein Kind zum sozialen Wesen erziehen?
Im Unterschied übrigens zu den Verkäufern im Supermarkt nebenan, die jene Masse an pädagogisch scheinbar verroht aufwachsender Prenzlbergkinder richtig schwierig finden, glaube ich. Und so hagelt es dort dann gerne mal ein scharf formuliertes “Danke” als Verweis an die das Kind begleitenden Eltern, dass der Spross eben jenes nicht getan und gesagt hat: Danke nämlich. Bitte übrigens auch nicht. Und überhaupt.
Vorleben versus erziehen
Und nun kommt’s: Ich habe mein Kind in solchen Supermarktsituationen oder darüber hinaus tatsächlich nahezu noch nie dazu angehalten, Danke zu entgegen. Gut, vielleicht aus Versehen. Oder weil ich ob des Erwartungsdrucks in ein, zwei Situationen eingeknickt bin. Aber ansonsten habe ich immer darauf spekuliert, dass mein Kind schon allein irgendwann auf die Idee kommen würde, sich zu bedanken – wenn ich es ihm nur vorlebte.
Und wie das so ist mit den Theorien: Zwischendurch werden sie auch von Zweifeln begleitet, ob jenes Konstrukt, das man sich zurecht gelegt hat, tatsächlich aufgeht. Während also viele, nein eigentlich die meisten Eltern in meinem Umfeld, ihre Kinder in den vergangenen Jahren aufforderten, sich zu bedanken und auch bitte zu sagen, ließ ich mein Kind schweigen, bzw. bedankte mich an seiner statt.
Warum ich das gerade jetzt aufschreibe? Wie immer, um Alternativen zur herrschenden Meinung aufzuzeigen. Aber vor allem, weil meine Rechnung dieser Tage aufgeht und genau das einsetzt, worauf ich die vergangenen Jahre spekuliert habe: es dauert vielleicht länger, dass das Kind tut, wovon wir Erwachsenen annehmen, dass es im Sinne eines gesellschaftlichen Miteinanders gut wäre, aber wenn es dann damit beginnt, ist das vor allem ein wahrhaftiger Impuls anstatt eine Regel, die wir ihm übergestülpt haben.
Die Schlechtigkeit des Kindes abtrainieren
Julius hat also begonnen “Bitte” und “Danke” zu sagen und zwar regelrecht immer, wenn ich etwas für ihn tue oder andersherum. Es ist quasi zum Selbstverständnis geraten, nachdem es eine ganze Weile nicht so war und ich wie beschrieben den einen oder anderen brüskierten Blick darüber geerntet habe. Ich muss dieser Tage immer wieder grinsen, wenn er beim Bäcker so scheinbar “artig” um eine Brezel bittet und die Verkäufer ganz angetan sind von diesem, meinen Kind, das sich außerdem zum Abschluss des Verkaufsgesprächs bedankt.
Nun ist die Theorie dahinter selbstredend nicht mein geistiges Eigentum, sondern das, was inzwischen so viele Eltern versuchen: Nämlich auf die Beziehung zu ihrem Kind zu setzen, anstatt immerzu zu meinen, ihr Kind zu einer gesellschaftlich kompatiblen Person erziehen zu müssen. Bzw. habe ich den Eindruck, dass bei vielen Eltern die Annahme bröckelt, ihr Kind müsse überhaupt erzogen werden, um mit anderen sein zu können. Ich glaube hingegen nämlich, dass in meinem Kind alle Anlagen gesetzt sind, zu einem sozialen Wesen heranzuwachsen – ja, es per se bereits qua Geburt ein soziales Wesen ist und das auch so bleibt, wenn es uns als seine Eltern und die ihn umgebenden und mit ihm interagierenden Menschen als eben solche erlebt.
Biedermeier-Deutschland und Johanna Haarer
Jenes Modell wiederum, dass darauf basiert, man müsse seinen Kindern regelrecht antrainieren, wie sie sich zu verhalten haben, ist letztlich ja auch – und darüber kann man durchaus mal einen Gedanken verschwenden – spätestens in Biedermeier-Deutschland und den dieser Epoche erwachsenen Strukturen sehr tief in unsere Gesellschaft eingegraben worden. Wenn es selbstredend zu beachten gilt, dass das Konzept Kindheit erst im 19. Jahrhundert entstanden ist: Den Rattenschwanz und die dystopische Dimensionen dessen, was sich an den Umgang mit Kindern im Biedermeier anschloss, bildet sehr anschaulich Michael Hanekes Film “Das weiße Band” ab.
Auch das, was Johanna Haarer in “Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind” als Erziehungsratgeber unter Hitler formuliert hat, basiert auf diesen Ansätzen und hat in gewissen Auszügen (Das Baby zum Einschlafen schreien lassen) bis heute Bestand. Etwa, wenn wir annehmen, das Kind sei eigentlich noch zu formende Biomasse, dem man gewisse Verhaltensweisen aberziehen und Regeln einbläuen muss, damit es zu dem wird, was für die Gesellschaft von Nutzen ist. Mit dem Unterschied, dass wir dieser Tage doch eigentlich kaum entrückter von dem sein könnten, was Hitler, Haarer und ihre Vordenker sich von diesem Erziehungsstil versprachen: kleine immerzu gehorchende und eines eigenen emotionalen Seins beraubte, funktionierende Soldaten nämlich.
Ich muss das wohl eigentlich gar nicht aufschreiben, aber mir schwebt natürlich genau Gegenteiliges vor. Nämlich mit meinem Kind einen mündigen Menschen großzuziehen, der sich oben beschriebener Dystopien zu erwehren weiß, bzw. sich vielleicht sogar eher an Gesellschaftsmodellen versucht, die wir heute noch als Utopie begreifen.
Und die Grundlage dazu, davon bin ich überzeugt, ist im Wesentlichen ganz sicher, mein Kind als grundständig richtiges und soziales Wesen anzunehmen – und ihm diese Annahme auch zu spiegeln, ihm darüber hinaus ein gutes Vorbild zu sein. Der Rest kommt dann schon. Hat hier bislang mit allem anderen auch funktioniert.
*Auf dem Bild da oben – wahrscheinlich den allermeisten noch aus ihrer eigenen Kindheit bekannt – sind Wilhelm Buschs “Max und Moritz” zu sehen. Buschs Geschichten wurden 1865 veröffentlicht und sind Zeugnis einer zur Veröffentlichung der sieben Streiche gängigen Prügel- und Zuchtpraxis.