“Armut ist mit einem riesigen Stigma besetzt”

Celsy ist Mutter zweier Kinder, selbstständig als freie Journalistin, Dozentin und Autorin und engagiert sich kommunalpolitisch und ehrenamtlich. Sie hat außerdem einen Blog, ein Magazin bei Steady und gerade ihren Podcast „Kalter Kaffee zwischen Chaos, Kindern und Kreativität“ gelauncht. Auf ihrem Instagram-Account schreibt Celsy über Mutterschaft, Selbstständigkeit und Gesellschaft. Aber auch die Themen Armut und Klassismus spielen immer wieder eine wichtige Rolle. Im Interview hat Celsy erzählt, warum ihr diese Themen so wichtig sind, was die aktuelle Situation mit ihr macht und was sich gesellschaftlich dringend ändern muss.

Du beschäftigst dich immer wieder mit dem Thema Armut. Woher kommt dein Interesse?

Ich musste über die Frage jetzt fast ein bisschen schmunzeln – denn es ist nicht so, dass ich mir das Thema Armut als Lieblingsthema ausgesucht hätte. Ich bin in Armut groß geworden, habe lange Jahre meines Erwachsenenlebens in Armut gelebt – und ich werde jetzt 32 Jahre alt. Nach wie vor gehöre ich zu denen, die man als „prekär beschäftigt“ bezeichnet, also Personen bzw. Berufsgruppen, deren Einkommen im Zweifel gerade so nicht zum Leben reicht. Uns persönlich geht es dabei ok – mein Mann hat ebenfalls ein Einkommen und gemeinsam reicht es dann für den Alltag. Aber eben auch nur dafür, weil wir beide beispielsweise ordentlich Bildungsschulden mit uns herumschleppen, weil wir unsere Ausbildungen über Kredite und Bafög finanzieren mussten. Wir können uns spontanen Urlaub genauso wenig leisten wie wahrscheinlich das Auto, das wir im Januar neu anschaffen müssten, weil der aktuelle Wagen nicht noch einmal TÜV bekommen wird. Wir bilden nur das Allernötigste an Rücklagen und haben klare Budgets für Einkäufe und Co.

Wir kennen aber eben auch Zeiten, in denen wir nicht einmal im Alltag wirklich gut klar kamen, weil wir kaum genug Einkommen zum Leben hatten. Ohne die Hilfe von Familie und Freund*innen hätten wir gerade Anfang unserer 20er wohl oft ab spätestens dem 18. des Monats nicht mehr einkaufen gehen können. Es gab Zeiten in meinem und unserem Leben, da haben wir den Großteil des Monats von Nudeln gelebt. 
Als ich schließlich meinen ersten Agenturjob hatte, besserte sich die Situation zeitweise. Allerdings war auch da das Geld immer knapp, da mein Mann sich beruflich umorientieren musste. Als ich in die Selbstständigkeit ging, weil ich schwanger keinen neuen Job gefunden hatte, wurde das Geld wieder knapper. Auch, weil wir beim ersten Kind sechs Monate lang aufs Elterngeld gewartet haben – ohne wahnsinnig große Reserven zu haben. Als mein Mann schließlich ein volles Gehalt bekam, weil er ausgelernt hatte, wurde ich krebskrank – und fiel als Selbstständige mit einem Kleinkind und einem Säugling durch alle Sozialversicherungsnetze, weil Krankengeld und Co. keine verfügbaren Optionen waren.
Ich beschäftige mich also deshalb so viel mit Armut, weil ich weiß, wie sie sich anfühlt. Wie sie prägt, welchen Mental Load sie mitbringt – und wie wenig unsere Gesellschaft dafür tut, sie zu beenden.

Aktuell ist die Situation sehr angespannt – Inflation, Krieg, eine Krise jagt die nächste. Wie geht es dir damit? Wie ist eure familiäre Situation? Hat sich euer Alltag verändert? Rechnet ihr mehr?

Für mich ist diese Zeit aktuell ein einziger, großer Trigger.

Dafür muss man verstehen, wie sehr Armut prägt. Es ist nicht bloß finanzielle Knappheit – es ist ein Lebensstil in ständiger Angst und Wachsamkeit.

Ich weiß genau, wie es ist, beim Einkaufen centgenau mitrechnen zu müssen, weil das Haushaltsbudget keine Ausrutscher verzeiht. Die Not, wenn beispielsweise die Waschmaschine kaputtgeht und aber keine Rücklagen da sind. Jedes Jahr wieder die Angst vor der Nebenkostenabrechnung, weil man bei aller Sparsamkeit kein Budget für die Nachzahlung hat. Verabredungen immer und immer wieder abzusagen, weil selbst die 3,50 Euro für einen Kaffee nicht mehr drin sind.
Entsprechend haben mich die Schlagzeilen über die Teuerungen, die Gasumlage, die Inflation krass verunsichert. Unsere Energiekosten sind so schon recht hoch, weil wir in einem ungedämmten Altbau leben. Als es dann plötzlich überall hieß, die Preise können sich vervierfachen, habe ich nächtelang nicht geschlafen. Die Angst, wieder dahin zu kommen, ständig zu allem „Nein“ sagen zu müssen und bspw. auch nicht mehr abwechslungsreich kochen zu können, ist riesig.
Da wir sowieso sehr strikte Budgets für die Alltagskosten haben, rechnen wir aktuell nur minimal mehr. Wir haben für jede Woche ein auf den Euro genaues Budget festgelegt, das sowieso eingehalten werden muss. Wir merken halt, dass wir unseren Lebensstil durch die Teuerungen wieder etwas mehr anpassen mussten. Hatten wir letztes Jahr noch den Luxus, uns den Familienalltag zumindest ein bis zwei Mal im Monat durch Lieferdienste zu erleichtern, müssen wir jetzt wieder darauf verzichten, um unser Haushaltsbudget nicht zu überschreiten. Beim Kochen schauen wir wieder mehr darauf, nicht allzu teure Gemüsesorten zu verwenden.
Ich schaue jetzt wieder vermehrt nach Second Hand, wenn ich Kleidung oder Geschenke für die Kinder brauche. Wir haben zwar ein Budget für diese Dinge – aber auch da merken wir die Teuerungen. Das heißt, dasselbe Geld reicht für weniger Dinge. Zusätzlich versuchen wir, möglichst viel Geld aus diesem Budget gerade für die Gasabrechnung an die Seite zu legen.

Der Alltag ist für mich damit echt weniger unbeschwert. Wir hatten in den letzten 1,5 Jahren eigentlich endlich einen Punkt erreicht, an dem ich sorgloser auf die Finanzen gucken konnte, weil wir zwar immer noch nicht viel, aber genug hatten. Das bricht gerade weg. Sowas wie Urlaube rücken in weite Ferne und auch spontane Ausflüge sind aktuell kaum drin. Das macht was mit mir.

Wie siehst du insgesamt die Situation? Und was bekommst du für Rückmeldungen, wenn du etwas zu dem Thema machst?

Ich sehe sehr viel Unsicherheit. Viele Menschen, die mir bei Instagram schreiben, fühlen sich im Stich gelassen. Corona war für viele schon eine harte Zeit. Viele Menschen haben ihre Jobs verloren oder waren in Kurzarbeit, einige mussten sich umorientieren. Jetzt gerade erleben wir die höchste Inflation seit den 1950er Jahren und es scheint, als ob die politischen Strategien mit dem Tempo der Krise nicht wirklich Schritt halten können. Das verunsichert viele. Aber vor allem die, die sowieso schon mehr Mühe in ihren Alltag und ihren Lebensstil stecken mussten, leben gerade in großer Angst vor der Zukunft, habe ich den Eindruck. Die meisten Rückmeldungen auf Instagram sprechen jedenfalls davon, wie froh sie sind, dass ich das mal sichtbar mache, was Armut und finanzielle Sorgen eigentlich bedeuten. Als ich im Sommer in einer Umfrage mal danach fragte, wo die Follower anfangen zu sparen, bekam ich gerade von vielen Alleinerziehenden die Antwort, dass sie anfangen, an den eigenen Mahlzeiten zu sparen, damit für die Kinder genug zu essen da ist. Das ist so übel! Aber es bestätigt auch das, was beispielsweise die Tafeln rückmelden – die Zahl derer, deren Geld nicht einmal mehr für die Grundversorgung reicht, wächst.

Hast du Tipps, die man direkt umsetzen kann?

Ich finde Tipps immer schwierig, weil ich glaube, diejenigen, die wirklich sparen *müssen*, die kennen alle Tricks und Kniffe schon. Aber grundsätzlich würde ich vielleicht diese drei Dinge vorschlagen:

1) Macht euch ein konkretes Haushaltsbudget, das für Lebensmittel, Getränke, Drogerieartikel und ggf. Haustierbedarf reichen muss. Wenn ihr nicht schon wisst, was ihr circa pro Woche an Geld braucht, sammelt mal einen Monat lang eure Kassenbons und sortiert die Ausgaben in „wirklich nötig“, „nice to have“ und ggf. „einmalig“ (für Geburtstagsgeschenke oder so). „Wirklich nötig“ ist dann in der Summe euer Richtwert, den ihr im Monat haben solltet. Geteilt durch vier bekommt ihr dann das Wochenbudget. Wenn ihr aktuell noch Luft nach oben habt, könnt ihr dieses Budget um die Summe der „nice to have“ Dinge aufstocken. Und wenn dann noch Geld übrig ist, legt ihr am besten ein kleines, monatliches Sparbudget für die „einmaligen“ Dinge an. Daraus könnt ihr dann Geschenke, Drinks mit Freund*innen oder Ähnliches bezahlen.

2) Programmierbare Thermostate helfen, die Heizkosten zu regulieren! Wir haben die im letzten Jahr angeschafft und sind schon mit den günstigen Modellen aus dem Supermarkt bzw. Baumarkt super gefahren. Die lassen sich dann vielleicht nicht per App bedienen, aber auf konkrete Uhrzeiten programmieren, sodass bspw. dann, wenn eh niemand zuhause ist, auch nicht ganz hochgeheizt wird. Kleiner Tipp von unserem Heizungsinstallateur dazu: Es ist sinnvoller, den Heizkessel für die Zeit der Abwesenheit um 4 Grad abzusenken als ihn ganz auszumachen. Wenn ihr den Heizkessel ganz ausmacht, verbraucht das wiederkehrende Hochfahren der Anlage nämlich wesentlich mehr Energie.

3) Schaut aufeinander. Gerade in diesem Winter werden wir auch in der Breite der Gesellschaft feststellen, dass finanzielle Armut wirklich Gräben schlagen kann. Schon jetzt sind viele arme Menschen einfach sozial isoliert, weil unser gesellschaftliches Leben so auf Konsum ausgerichtet ist. Wenn eine Freundin die wiederkehrende Frage nach einem Coffee-Date immer wieder ausschlägt, kann es sein, dass sie sich den Besuch im Café gerade einfach nicht leisten kann, sich aber zu sehr schämt, um das zuzugeben. Schlagt dann einfach mal einen Spaziergang vor und wenn ihr es euch selbst leisten könnt, bringt den Coffee to go einfach für euch beide dorthin mit.

Und was muss sich gesellschaftlich dringend ändern?

Wir brauchen eine Grundsicherung, die ihren Namen verdient – und da ist auch das Bürgergeld nur ein marginaler Fortschritt. Außerdem brauchen wir mehr Menschen, die sich in Gewerkschaften zusammentun und die lange überfälligen Lohnerhöhungen durchsetzen. Dafür braucht es vor allem aber Solidarität innerhalb der Gesellschaft. Wir müssen begreifen, dass wir nicht weniger haben, wenn wir dafür sorgen, dass alle Menschen gleichwürdig leben kann. Im Gegenteil. Wenn wir allen Menschen ermöglichen, gleichberechtigt und würdevoll von ihrem Einkommen leben zu können, profitieren wir alle davon. Wenn von Umverteilung und Vermögenssteuer die Rede ist, dann sind nämlich nicht die Durchschnittsfamilien gemeint, die sich ein oder zwei Urlaube im Jahr leisten können. Oder die, die zwei Autos brauchen, damit beide zur Arbeit kommen. Sondern diese Maßnahmen treffen die Leute, die wirklich nicht mehr wissen, wohin mit ihrem Geld und sich deshalb mehr Autos in die Garage stellen als es überhaupt Fahrerlaubnisse innerhalb des Haushalts gibt.

Wenn wir begreifen, dass auch die Mittelschicht davon profitiert, wenn wir Armut effektiv bekämpfen – dann kommen wir dahin, dass wir ein gleichwürdiges Leben für alle ermöglichen.

Du hast schon öfter angemerkt, dass bei Diskussion auf Instagram oft das Thema Klasse vergessen und nicht genügend darüber gesprochen wird, wie es ist, kein Geld zu haben. Woran liegt das? Und warum ist es so wichtig?

Ganz zuerst ist Armut mit einem riesigen Stigma besetzt. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die uns suggeriert, dass wir uns nur genug anstrengen müssten, um ein auskömmliches Leben zu führen. Menschen in Armut wird oft vorgeworfen, sie seien faul oder hätten es nur nicht hart genug probiert. Dieses Stigma trägt natürlich dazu bei, dass über Klasse einfach nicht wirklich gesprochen wird. Im Übrigen legen Untersuchungen nahe, dass gerade sogenannte Aufsteiger, also Menschen, die sich aus der Armut in gut bezahlte Positionen gearbeitet haben, am härtesten mit armen Menschen ins Gericht gehen. 
Vor allem wird auf Instagram aber auch wenig über Klasse gesprochen, weil die feministische bzw. Elternbubble zwar durchaus auch aus mehrfach marginalisierten Personen besteht, aber viele von ihnen finanziell trotzdem einigermaßen abgesichert sind. Es braucht allein schon relativ viele zeitliche Kapazitäten, auf Instagram überhaupt so viel Content zu produzieren. Diese zeitlichen Kapazitäten haben in der Regel vor allem Menschen, die diese Zeit nicht zum Geld verdienen verwenden müssen – oder sich das Risiko, als selbstständige Content Creator mit Instagram Geld zu verdienen, leisten können.
Es wäre aber wichtig, dass wir mehr über Klasse sprechen, weil sie die Grundlage für alles andere ist. Immer wieder bestätigen Untersuchungen, dass die eigene sozioökonomische Herkunft in den allermeisten Fällen der Grundstein für die weitere Biografie ist – das heißt, dass es beispielsweise keine Bildungsgerechtigkeit geben kann, wenn wir Armut nicht effektiv bekämpfen. Und ich finde, vor allem in der Elternbubble merkt man das sehr deutlich:

Viele Vereinbarkeitstipps zielen im Grunde auf die Möglichkeit ab, sich Hilfe zu kaufen – ob dass die Babysitterin, die Putzkraft oder der Lieferdienst ist, der Essen und/oder Einkäufe nach Hause bringt. Das sind Dimensionen, in den können arme Familien überhaupt nicht denken!

Wer von zwei Vollzeit- oder vollzeitnahen Gehältern gerade so das Essen auf den Tisch bringen kann, der kann von der eigenen Haushaltshilfe nur träumen. 
Wenn wir diesen Faktor, also den Faktor Klasse, gerade in Bezug auf Vereinbarkeit nicht mitdenken, dann machen wir am Ende wieder nur Familienpolitik für diejenigen, denen es sowieso schon besser geht. Die Familien, die tatsächlich Entlastung brauchen, weil sie nicht nur erschöpft sind, sondern auch kaum wissen, wie sie die kaputte Waschmaschine bezahlen sollen, werden dann wieder übersehen.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir über Klasse reden. Dass wir über Armut reden. Denn nur, wenn wir den gesellschaftlichen Wandeln „von unten her“ denken, können alle gewinnen.

Danke, Celsy!