Warum Babys nicht schlafen lernen müssen
Denn wie es der Zufall manchmal so will, hatte ich erst einen Tag vorher das Thema Babys und Schlafen mit Freundinnen besprochen. Ganz ehrlich: Die meisten haben Kinder, die bessere Schläfer sind als meines. Mein Kleiner schläft eigentlich nur, wenn ich danebenliege und auch nicht weggehe, wenn er schon eingeschlafen ist. Das ist nicht immer einfach. Ich weiß, das mag für manche banal und egoistisch klingen, aber nach sieben Monaten sehne ich mich manchmal sehr nach einem Abend mit meinem Freund auf der Couch. Oder einer lauen Sommernacht auf dem Balkon, in der wir mal wieder Paar sind und nicht zwei Menschen, die den Schlaf unseres (wunderbaren!) Babys überwachen. Das erzählte ich auch zwei Freundinnen, die in den USA geboren sind und dort leben.
Ich staunte nicht schlecht, als ALLE mir zu “sleep training” rieten. Für alle, die das nicht kennen: Dabei lässt man das Baby gewickelt, gefüttert und sicher abgelegt in seinem Bettchen, verlässt den Raum – und kehrt, wenn es nach seinen Eltern schreit, entweder gar nicht zurück (das ist die radikalste Form) oder nur nach zeitlich festgelegten Intervallen. So soll das Baby “trainiert” werden, alleine einzuschlafen. Meine Freundinnnen erzählten mir also von der Notwendigkeit dieser Methode und schwärmten von ihrer Effizienz. Eine von ihnen sagte sogar den archaischen Satz, schreien sei gut für Babys und stärke ihre Lungen! In modernen Gesellschaften sei es falsch, beim Erziehen dem eigenen Instinkt zu folgen. Schließlich würde ich meinem Sohn doch auch nicht einen Schluck von meinem Cocktail geben, nur weil er das will. Es sei an mir, ihn an das Durchschlafen heranzuführen und es ihm beizubringen. Was zum Teufel? Ja, genau, ich musste auch schlucken. Denn solche Sätze kann man auch genauso in Johanna Haarers NS-Erziehungsratgeber “Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind” lesen.
Gleichzeitig kenne ich diese Freundin, nennen wir sie Kelly, sehr gut und weiß, dass sie eine liebevolle Mutter ist, sehr weit weg von schwarzer Pädagogik, und bis auf das Thema “sleep training” teile ich ihre Meinung zum Thema Erziehung in vielen Punkten. Ich will andere Mütter nicht verteufeln und finde, es ist auch zu einfach, da Feindbilder zu schaffen. Es ist eben nicht alles schwarz/weiß im Leben.
Tatsächlich scheint hier also ein kultureller Aspekt eine große Rolle zu spielen – wenn man “sleep training” googelt, kommen tatsächlich aus dem angelsächsischen Raum drastisch andere Artikel als wenn man “Schlaflerntraining” bei google.de eintippt. Besonders bezeichnend fand ich die Schilderungen hier – mir scheint ganz so, als sei es in den USA auch durch die teilweise brutale Realität des Arbeitsmarkts einfach akzeptabler, wenn man von Babys erwartet, dass sie funktionieren – Erwachsene müssen das dort ja auch. Sie leben anders als wir nicht in einem Land mit einer sozialen Marktwirtschaft.
Und viele Eltern dort denken sich, wenn ich die Erfahrungsberichte so lese, man müsse da einfach durch, dass das Kind alleine im Zimmer liegt und schreit. Suck it up and deal with it, irgendwie so. Das wäre eigentlich noch einmal ein ganz eigener Post – denn ist es nicht verrückt, dass etwas, das hierzulande seit Jahrzehnten als möglicherweise traumatisierend gilt, in den USA immer noch als völlig bedenkenlos propagiert wird, sogar von Professoren an renommierten Universitäten wie Yale oder Penn State?
Perfide Art von Clickbaiting
Aber nun zu Deutschland: Hier gilt es als Sakrileg, den Ratgeber von Kast-Zahn zu empfehlen, gegen die Neuauflage gab es im Jahr 2013 eine Petition. Ich tue mich mit Verboten, insbesondere von Büchern, schwer. Was ich aber entschieden ablehne ist die Art von Clickbaiting, die die Redaktion von Spiegel.de mit dem jüngsten Post zu Kast-Zahns Ratgeber betreibt. Gerade jetzt, zu einer Zeit, die viele Eltern überfordert zurückbleiben lässt und anfällig macht für vermeintlich schnelle Lösungen.
Denn ich muss zugeben: Natürlich klingt das erst einmal verlockend, wenn die Freundin aus den USA berichtet, ihr Sohn habe nach nur einem Abend schreien lassen durchgeschlafen – oder man in einem Buch wie dem von Kast-Zahn liest, wie man das Kind möglichst schnell dazu erzieht. Wie gesagt: Mein Kleiner wacht am frühen Abend alle 20 Minuten auf und wenn er dann niemanden neben sich hat und wir nur mit dem Babyphone zugeschaltet sind, dann braucht er auch wenn wir sofort ins Zimmer stürzen weitere 20 Minuten, um sich zu beruhigen, manchmal länger. Das haben wir nur ein paar Mal gemacht. Seit sieben Monaten liegen wir also so gut wie jeden Abend neben ihm – und obwohl ich weit davon entfernt bin, zu sagen, ich kann überhaupt gar nicht mehr, wäre es doch schön, mit meinem Freund mal einen Abend außerhalb es dunklen Schlafzimmers zu verbringen.
Studien vs. Instinkt
Ich habe nach Studien gesucht, die etwas Licht ins Dunkel bringen, und bin dabei auf diesen tollen Post von Nora Imlau gestoßen. Darin schreibt sie, was ich schon ahnte: Dass es zu den schädlichen Folgen von Schlaflerntrainings keine belastbaren Studien gibt. Sie schreibt darin:
“Denn: Wer die Argumente von Frau Kast-Zahn und anderen Schlaflernprogramm-Befürwortern einfach wegwischt mit der Begründung, dass diese doch schon längst wissenschaftlich widerlegt seien, macht es sich zu leicht. Denn auch wenn es Schlaflernprogramm-Kritikern wie mir und vielen meiner Leserinnen und Leser nicht gefallen mag, in diesem Punkt hatte Frau Kast-Zahn schlicht recht: Es gibt keine einzige Studie, die nachteilige Langzeitwirkungen von Schlaflernprogrammen auf die kindliche Psyche oder die Eltern-Kind-Bindung nachweisen würde. Ich schwöre: Ich habe mir die Finger wund gesucht danach. Es gibt sie nicht. Es gibt keinen Beweis, dass Schlaflernprogramme schaden. Auch wenn man im Internet immer wieder Gegenteiliges liest.”
Was also tun, wenn es keine wissenschaftlichen Beweise für das eigene Empfinden gibt? Für mich ist klar: Ich höre auf mich, auf meinen Instinkt. Es kann nach meinem Gefühl gar nicht NICHT schrecklich für ein kleines, hilfloses Baby sein, alleine schreien gelassen zu werden. Ich denke, diese Erfahrung macht etwas mit einer Babyseele. Und zwar nichts Gutes. Das heißt für mich: Ich lasse mein Baby nicht schreien, damit ich bald wieder einen Abend für mich habe. Weil ich das ethisch völlig verkehrt finde. Gleichzeitig finde ich es auch wichtig, Eltern nicht zu verurteilen, die völlig verzweifelt sind, mit den Nerven am Ende und auch tagsüber nicht mehr in der Lage, auf ihr Kind einfühlsam einzugehen.
Auch in diesem Fall ist die brutalste Schlaflernmethode – in den USA als Weissbluth-Methode noch häufig propagiert – sicherlich auch der falsche Weg. Aber andere, modifizierte Varianten, können für manche Eltern vielleicht wirklich die Rettung sein, wie Jana Friedrich hier schildert. Wie gesagt: Ich bin wirklich nicht für Schlaftraining, auch nicht in der mildesten Variante, aber es gibt vielleicht Familien, wo der Leidensdruck so hoch ist, dass man abwägen muss, weil man es gar nicht mehr schafft, tagsüber liebevoll auf das Kind einzugehen.
Was mich ebenfalls in meinem Weg bestärkt hat, meinem Baby die Zeit zu geben, die es braucht: Dieser Post von Susanne Mierau. “Schwere Wege wollen begleitet werden. Wie immer in der Kindheit und wie immer im Leben. Unsere Nähe sagt dem Baby: „Schlafen ist wunderbar, ich wache über Dich”, schreibt sie. Und so werde ich weiter über mein Baby wachen und irgendwann wird er diese “Wachdienste” von ganz alleine nicht mehr brauchen. Bis dahin kampiere ich weiter im Schlafzimmer und scrolle durch meine Handyfotos von Weißweinschorlen und lauen Sommernächten.
Wie geht es anderen Müttern mit schlechten Schläfern? Das würde mich ja brennend interessieren. Denn es ist ein riesiges Thema! Trish vom Blog Mutterliebe hat sich dem schon vergangenes Jahr in diesem Podcast gewidmet und diese Inlays gestaltet, damit Mütter, die Kast-Zahns Ratgeber kaufen, noch eine Alternative kennenlernen. Und auf Instagram findet ihr derzeit unter dem Hashtag #stopschlaftraining wirklich viele Argumente gegen diese Trainings.
Foto: Marie Despeyroux