Es ist Zeit für eine neue Folge… “Liebe Inke…” Hier könnt ihr Familienberaterin Inke Hummel Fragen stellen, die euch belasten. Denn: Beziehung, Erziehung, Regeln, Normen, Werte – in der Theorie wissen wir ja alle, wie das gehen soll. In der Praxis kommt es aber oft zu Konflikten. Und zwar in wirklich fast allen Familien. Und eben diesen Konflikten und den Fragen, die diese aufwerfen, bieten wir hier zusammen mit Inke Raum. In den letzten Wochen sind viele Emails bei uns eingetrudelt – einige beschriebene Situationen kennen wir auch selbst. Und wissen, wie überfordernd sie sein können. Die heutige Frage hat uns total beschäftigt. Denn es kann tatsächlich schwierig sein, wenn das eigene Kind ein ganz anderes Temperament hat, als man selbst…
Liebe Inke… mein Kind steht nie still, ich brauche viel Ruhe. Was tun?
„Liebe Inke,
ich bin selbst eine introvertierte und hochsensible Mutter, habe aber ein Kind, das extrovertiert ist. Wenn ich meine 2 jährige Tochter mit einem Wort beschreiben müsste, wäre das “Wirbelwind”. Seit sie vierzehn Monate alt ist, geht sie in die Kita und ist dort – nach einer langen Eingewöhnung – sehr glücklich.
Mittlerweile habe ich unseren Alltag so gestaltet, dass wir nachmittags immer draußen sind (einkaufen, Spielplatz, Wald, Pferde gucken, Bücherei), weil ich merke, dass er so am besten funktioniert. Meine Tochter und ich sind dann einfach ein unschlagbares Team. Wir haben so viel Spaß miteinander und sie akzeptiert Grenzen – meistens – ziemlich gut. Ich habe Meal-Prep für mich entdeckt, damit wir die Nachmittage so gut es geht ausnutzen können.
Das Problem ist nur, wenn wir doch mal zu Hause bleiben und ich mich nicht mit ihr beschäftige. Diese Woche wollte ich unsere Möbel umstellen und sie wollte die ganze Zeit, also wirklich pausenlos, auf meinen Arm. Früher hätte ich sie einfach in die Trage genommen, aber mittlerweile ist mir das einfach zu schwer. Gestern musste ich dann doch einmal Nudeln kochen und das war mit Geschrei verbunden, weil sie auf meinen Arm, mit mir spielen, meine Aufmerksamkeit wollte.
Am Wochenende ist das kein Problem, da können wir auch mal einen halben Tag zu Hause bleiben, weil wir ja zwei sind, die sich um unsere Tochter kümmern, aber in der Woche ist das nur mit Geschrei verbunden.
Jetzt ist meine Frage, ob ich meine Tochter “verwöhne”, wenn ich ihr nicht beibringe, auch mal ruhige Stunden zu Hause mit mir zu verbringen, ohne dass die ganze Aufmerksamkeit bei ihr liegt. Ich will sie ja dabei haben, sie kann mir zugucken und selbst mit anpacken, aber neben und nicht auf mir. Ich schwanke hin und her, zwischen: “Das ist halt ihr Charakter/ihr Alter” und “Aber vielleicht muss sie das einfach gerade lernen (Betonung auf lernen und nicht auf muss), wie Wutanfälle aushalten oder damals hinfallen, bevor sie laufen konnte”.
Also diesen schwierigen Situationen aus dem Weg gehen oder sie sogar aktiv in den Alltag bringen, damit wir einen Weg finden, sie zu bewältigen?
Viele Grüße!”
Das sagt Inke:
Die gute Beziehung als Basis
Zunächst mal bin ich ganz begeistert, wie gut du dich und deine Tochter wahrnimmst und welche Gedanken du dir machst. Wenn Kinder so im Blick der Eltern sind und die Beziehung so nah ist, ist das erst einmal eine ganz wunderbare Voraussetzung für eine gute Entwicklung.
Und dann möchte ich dir sagen, dass es in meinen Augen tatsächlich immer eine Spannung mit sich bringt, wenn Eltern und Kinder unterschiedliche Wesensarten mitbringen. Sind sie gleich, ist das auch natürlich auch nicht immer einfach. Aber sind sie derartig konträr wie bei euch beiden, ist es gerade für dich als introvertierte und hochsensible Person besonders herausfordernd. Daran führt kaum ein Weg vorbei.
Aktives Annehmen als Hilfsmittel
Das zu hören hilft auf den ersten Blick nicht, aber vielleicht auf den zweiten. Den zum einen mag es dir dabei helfen, die Situation anzunehmen: Ja, es wird wahrscheinlich oft nicht ganz unanstrengend sein als Mutter dieses Mädchens. Dieser Gedanke ist manchmal sinnvoller als das ewige Warten auf „Heute wird bestimmt endlich mal ein einfacher Tag!“ Wenn du stattdessen denkst „Heute wird es wieder schwierig werden!“, aber auch „Ich habe Ideen, um damit in den meisten Fällen ganz okay zurechtzukommen!“, dann ist das „Aktives Annehmen“ und eine sehr hilfreiche Strategie.
Und das Beste ist: Wenn dann doch mal ein Tag richtig super wird, kannst du dich richtig freuen.
Zum anderen erlaubt dir das Wissen, dass es mit euren unterschiedlichen Wesensarten immer wieder zu Explosionen kommen wird, dir ohne schlechtes Gewissen Hilfe zu suchen und anzunehmen. Viele Eltern haben eine Hemmung, sich Unterstützung zu suchen, ihrem Kind verschiedene Bezugspersonen „zuzumuten“, sie länger in der Betreuung zu lassen oder einen Babysitter einzustellen, „nur um mal durchzuschnaufen“.
Aber dir rate ich das unbedingt. Es ist total in Ordnung und für dein Kind wahrscheinlich ein Gewinn. Denn weitere gute Beziehungen sind Geschenke. Und eine Mama, die Raum für Selbstfürsorge hat, ist eine bessere Begleiterin. Das eilt noch nicht, glaube ich, aber vielleicht schaust du dich um, was möglich wäre. Und wenn es nur mal andere Eltern sind, die dein Kind aus der Kita mit heim nehmen zum Spielen mit ihrem Kind, so dass du so erst später abholst. Such nach Hilfe, schau nach Inseln. Dann hast du in eurer gemeinsamen Zeit mehr Kraft. Das muss wie gesagt nicht heute oder morgen sein, aber wahrscheinlich demnächst mal.
Verwöhnen kann gut und schlecht sein
Und jetzt schaue ich mit dir auf dein Kind. Sie fühlt sich in geschlossenen Räumen nicht so wohl und hat dann intensive Wünsche an dich. Ersteres geht vielen wilden Kindern so. Sie brauchen die Weite, sie brauchen die Reize und den Input, sie lieben das Miteinander mit anderen – und sie zeigen ihre Vorstellungen überdeutlich. Das wirkt manchmal egozentrisch, manchmal nahezu übergriffig. Mit 2 Jahren ist das noch total im Rahmen, aber bei wilden Kindern kann das auch mit 8 noch so sein: „Ich will aber!“
Wichtig ist mir an der Stelle immer: Die Kinder wollen keine Aufmerksamkeit. Das klingt so negativ und ist auch oftmals so gemeint. Sie suchen aber Beziehung in solchen Momenten. Und das ist nichts Negatives. So sollten wir es also auch formulieren. Beziehung heißt aber nicht „Friede, Freude, Eierkuchen“, sondern zum Beispiel gemeinsam lösen.
Im Umgang mit der Wildheit und den starken Wunschäußerungen ist es wichtig, dass du auf sie und auf dich schaust, um damit gut umgehen zu können. Zum einen ist ein Wunsch kein Bedürfnis. „Ich will dabei sein, wenn du etwas machst, und zwar ganz eng!“ ist ihr Wunsch. Psychische Grundbedürfnisse, die dahinterstecken können, haben aber mit Bindung und Selbstbestimmung, Selbstwert und Lust zu tun. Sie machen es nicht erforderlich, dass du dich nach ihrem Wunsch richtest.
Wenn du klar äußerst, was du brauchst und planst, wenn du deinem Kind Raum gibst, dabei zu entscheiden, ob es dir vom Sofa aus zuschaut, ob es mit Möbel schiebt oder am Küchentisch hockt und dabei ein Bild davon malt, wenn du ihm all das zugewandt und nicht beschämend sagst,
dann berücksichtigst du seine Bedürfnisse, aber dieses Mal nicht seinen Wunsch. Das ist total okay.
Und nehmen wir den Begriff des Verwöhnens: Es ist wunderbar, dass wir unsere Kinder heute verwöhnen dürfen und nicht mehr um jeden Preis abhärten oder gar zu Befehlsempfängern erziehen müssen. Doch Verwöhnen kann ungut werden, nämlich wenn du darunter leidest oder dein Kind.
Schauen wir auf deine Beispielsituation:
Würdest du sie zu Hause immer nur auf deinen Arm nehmen, würde dein Rücken leiden und du könntest keine Sekunde selbstbestimmt etwas tun. Körperlich würde sich das irgendwann schmerzhaft rächen, und auch psychisch würdest du irgendwann auf dem Zahnfleisch gehen, weil dein Bedürfnis nach Selbstbestimmung keinen Platz hat. Ziemlich sicher kämst du dann an den Punkt, wo du nicht mehr liebevoll mit deinem Kind umgehen könntest, sondern hart und autoritär reagieren würdest. Ich glaube nicht, dass du das möchtest, und es wäre weder für eure Beziehung noch für dein Kind gut. Daher ist es wichtig, nicht ungut zu verwöhnen und frühzeitig die Reißleine zu ziehen.
Würdest du sie zu Hause nur auf den Arm nehmen und nur ihrem Wunsch nachkommen, würdest du deine Tochter auch in ihrer gesunden sozialen Entwicklung hemmen. Es ist wichtig, dass sie mitfühlen lernt: Was brauchen andere Menschen, was fühlen andere Menschen, wo muss ich mich in Beziehungen auch mal zurücknehmen und einen Kompromiss zu lassen? Ohne dieses Lernfeld hätte sie im Kindergarten, in der Schule und im weiteren Leben viele Probleme. Darum lass sie das bei dir lernen, in eurer sicheren Beziehung. Auch darum ist es wichtig, nicht ungut zu verwöhnen und deinem Kind frühzeitig zu zeigen, was andere brauchen – was du brauchst.
Wenn du mehr dazu erfahren magst und vielleicht Unterstützung brauchst, um aus dem unguten Verwöhnen auszusteigen, lege ich dir mein Buch „Nicht zu streng, nicht zu eng“. Es nimmt dich mit auf eine emotionale Reise, die dir die beziehungsorientierte Haltung verständlich und für dich nachspürbar und lebbar macht.
Konfliktscheue überwinden
Natürlich bedeutet das nicht, dass dein Kind brav nicken wird und kooperiert, wenn du das alles ganz gut hinbekommst, also Bedürfnis und Wunsch unterscheidest und nur aufs erstere eingehst. Nein, wahrscheinlich wird sie sich beschweren, denn sie ist erst 2 und nicht 12 oder 22 Jahre alt. Sie kann mitfühlen, dass du sauer oder traurig bist, aber nicht mitdenken und sich zurücknehmen, damit du mal eben 15 Minuten nach deiner Laune planen kannst. Ja, die Wutanfälle werden kommen. Das musst du aushalten und das ist deine Verantwortung. Es ist ein Lernprozess und Lernen hat oft mit Konflikten und Missstimmungen zu tun. Leider.
Das Wichtige für dich ist die Begleitung. Eltern können ihre Kinder hart und autoritär lernen lassen oder aber zugewandt und in Beziehung. Letzteres bedeutet, dass du dein Kind nicht beschämst, wenn du dein Bedürfnis aufzeigst, sondern fürsorglich begleitest. Zeig ihm nicht nur, was es lassen soll, sondern was es tun kann und wie. Wie kann es seine Wut okay herauslassen? Welche Spielräume hat es? Was darf es entscheiden im Rahmen deiner Leitplanken? Und wie kann die Verbindung zu dir alternativ aussehen als auf deinem Arm zu sein? Kann Mitmachen helfen?
Wie dein Kind von dir begleitet immer besser dazu kommen kann, ohne den direkten Kontakt mit dir zu spielen, hat vor allem mit dem Verlängern des Bindungsbandes zu tun. Es muss sich nach und nach sicherer mit sich selbst und auch mit deinen Reaktionen (auch mit deinem Nein-Sagen) fühlen. Dann kann es den Abstand, aber auch deine Bedürfnisäußerung und sogar deine Wünsche immer leichter aushalten.
Mehr Wissen und Impulse zum Leben mit temperamentvollen Kindern findest du auch in meinem Buch „Mein wunderbares wildes Kind“. Darin geht es zum Beispiel darum, wie du es schaffen kannst, solch ein Kind mit deinen Ressourcen und Erfahrungen gut zu begleiten. Und es gibt Alltagstipps zu etlichen typischen Herausforderungen, zum Beispiel auch zum Grenzenaufzeigen.