Elternsex – mal will der eine, mal der andere – oft keiner…

Anfang des Jahres hatten wir auf Instagram eine Umfrage zum Thema Sexualität und (weibliche) Lust gemacht. Daraufhin kamen unfassbar viele Antworten – Sex in langjährigen Partnerschaften ist definitiv ein grooooßes Thema und es birgt viele Herausforderungen. Gehört Sex denn überhaupt unbedingt zu einer glücklichen Beziehung dazu? Was, wenn es dazu aber nicht mehr kommt – und man das ändern will? Oder wenn der eine will, der andere aber nicht? Über all das haben wir mit Julia Henchen gesprochen. Sie ist systemische Paar- und Sexualtherapeutin und Sexualpädagogin und hilft Menschen dabei, ihre Sexualität zu verstehen und die Beziehung nach individuellen Wünschen zu gestalten.

Viele erzählten uns, dass das Sexleben bei ihnen komplett eingeschlafen ist. Ist das bei vielen Paaren so?

In Langzeitbeziehungen ist es sogar normal, dass es mal Phasen gibt, in denen keine Lust vorhanden ist oder uns der Zugang dazu fehlt. Das hat verschiedene Gründe. Einmal liegt es an unseren Hormonen, denn diese verändern sich im Laufe einer Beziehung und die anfängliche Verliebtheit, also die rosarote Brille, weicht einer neuen Realität. Zum anderen kommen Lebensereignisse hinzu, die uns manchmal mehr Energie rauben. Wenn wir beispielsweise gerade den Job wechseln, unglücklich sind, Eltern werden, umziehen, ein Haus bauen oder andere Veränderungen in unserem Leben präsent sind, ist es normal, dass für Sex wenig oder keine Energie mehr vorhanden ist.

Welche Rolle spielen Kinder?

Eine große Rolle, denn als Eltern kommen auch viele Veränderungen in unserer Gefühlswelt hinzu. Plötzlich tragen wir Verantwortung für ein kleines Wesen und müssen uns komplett umstellen.
Eine Partnerschaft ist aber auch Arbeit, genauso wie Sex nicht einfach spontan entsteht, sondern eben initiiert werden muss und dafür benötigen wir Energie. Diese fehlt, gerade in den ersten zwei Jahren der Elternschaft häufig. Es ist also einfach normal, in dieser Zeit wenig oder keinen Sex zu haben.
Bei Müttern verändert sich außerdem nach der Geburt oft das Körpergefühl.

Viele fühlen sich in den ersten Jahren overtouched.

Wir haben eben verschiedene Bedürfnisse, die beim Sex befriedigt werden. Zum Beispiel körperliche Nähe, oder auch emotionale Nähe. Babys sind oft fast den ganzen Tag am Körper, die Mutter stillt, auch nachts. Auch später sind Kinder „Traglinge“, oft bis ins vierte Lebensjahr hinein. Und wenn die körperliche Nähe schon befriedigt ist, und die emotionale auch – weil eine Elternschaft ja auch sehr schön sein kann, weil die Beziehung sich stabil anfühlt, dann hat man eben keine Lust auf Sex. Es ist ja schon alles „erledigt“. In der Kleinkindphase haben die meisten Eltern, vor allem Mütter, ja sogar eher ein Bedürfnis nach Distanz, nach Zeit und Raum nur für sich. Sie sehnen sich nach möglichst wenig Berührung, in allen Bereichen. Viele Paare erzählen mir, dass sie quasi seit der Befruchtung keinen Sex mehr hatten und jetzt ist das Kind drei Jahre alt. Es war einfach kein Bedürfnis mehr da.

Welche Bedürfnisse können denn noch mit Sex verbunden sein?

Das klingt vielleicht klischeehaft, aber wir haben auf jeden Fall auch Sex, um den Partner an uns zu binden, um zu gefallen, um zu erobern, um uns selbst in einem guten Bild zu sehen. Das gilt für beide Geschlechter. Es geht viel um Grundbedürfnisse: Bindung und Sicherheit.
Natürlich haben Menschen aber auch Sex um der Sache willen. Weil es Spaß macht, weil es sich gut anfühlt. Wenn wir von Anfang an vor allem Sex haben, weil es uns erregt, weil wir gerne Sex haben, dann sind das die besten Startbedingungen und man kann darauf aufbauen, auch wenn das Sexleben mal eingeschlafen ist. Aber viele Paare müssen sich vorher erstmal klar machen, worum es eigentlich geht. Und das ist ganz oft nicht der Sex an sich – es geht um um Bindung, um Sicherheit, um Nähe. Und natürlich auch um Bestätigung. Gerade Männer quält es oft, wenn die Partnerin keine Lust mehr auf sie hat. Sie denken, am Anfang war es doch noch so viel? Aber vielleicht ging es da nicht um den Sex an sich, sondern zum Beispiel um das Bedürfnis nach Emotionalität. Und es kann für sie dann auch beruhigend sein, dass es gar nicht an ihnen liegt.

Wenn beide mit der Entscheidung happy sind, spricht doch auch nichts dagegen, keinen Sex zu haben, oder?

Genau, wenn beide happy sind und erkennen: Hey, diese Phase ist normal und geht vorbei oder sie sagen, es stört mich momentan auch gar nicht, gibt es auch keine Probleme. Ein Problem wird es eben dann, wenn eine Person eine große Sehnsucht hat oder sich fragt „Was stimmt nicht mit uns?“. Denn Sex zeigt für viele Menschen eben genau das an: „Hier ist alles ok – bei uns ist alles in Ordnung“. Und wenn diese Bestätigung wegfällt, kann das etwas mit uns machen. Auch das ist normal.

Gehört Sex denn zu einer glücklichen Beziehung?

Jein – für einige Menschen mit Sicherheit, für andere nicht. Ich würde eher wissen wollen, woher der Gedanke kommt, dass Sex zu einer glücklichen Beziehung dazu gehört. Denn dieser Gedanke ist häufig von außen gemacht. Aber natürlich fühlen sich viele Menschen durch Sex auch näher mit dem/der Partner_in verbunden oder fühlen sich gesehen. Pauschal kann man das also nicht sagen.
Wichtig ist, die eigene, individuelle Lösung zu finden. Sich zum Beispiel frei zu machen von dem Gedanken, zwei bis drei Mal Sex pro Woche sind normal. Jedes Paar kann für sich eine Lösung finden, sich fragen: Wie oft brauchen wir gemeinsam Sex, um glücklich zu sein? Das kann alle zwei Monate sein, zum Beispiel.

Ich kenne auch Paare, die haben zwei bis drei Mal im Jahr Sex, für die ist alles fein und sie sagen: Wir haben regelmäßig Sex. Es ist alles Definitionssache.

Wie meinst du das – von „außen gemacht“? 

Der Gedanke, dass Sex zu einer glücklichen Beziehung dazu gehören muss, ist von Medien gemacht. „Wenn kein Sex stattfindet, stimmt was nicht.“ Für manche Menschen ist das sicherlich auch so. Es ist eben sehr individuell. Deswegen ist es auf jeden Fall sinnvoll, darüber zu sprechen.
Tendenziell gibt es gerade einen Trend zur Langzeitbeziehung, weniger Sex gehört da natürlich dazu. Es kann immer wieder einen Aufschwung geben, aber die meisten Beziehungen haben phasenweise sogar gar keinen Sex. Deshalb gibt es ja auch immer Menschen, die damit ein Thema haben.

Oft hat man den Eindruck, dass sexuelle Unlust noch ein Tabuthema ist – Warum eigentlich?

Ja, es ist ein großes Tabu. Aus meiner Sicht vor allem deswegen, weil sich Menschen, gerade beim Sex, unglaublich viel vergleichen. Wer hat besseren Sex, wer hat mehr Sex? Und was sagt das über mich als Person aus, wenn mein_e Partner_in plötzlich keine Lust mehr auf mich hat?
Also nicht nur der Vergleich spielt hier eine Rolle, sondern auch meine Identität als attraktiver Mensch und meinen Wert als (sexuelles) Wesen.

Viele Frauen erzählen uns auch, dass die Lust ungleich verteilt ist. Und da gibt es keine Regeln, mal will der Mann mehr, mal die Frau. Trotzdem gibt es das Vorurteil: „Der Mann hat immer Lust, die Frau nicht!“

Hier sind wir stark im Bereich von Rollenbildern und Männlichkeitsbildern. Der Mann der Versorger, der, der alles im Griff hat. Auch beim Thema Sex erwarten viele, dass der Mann immer kann, immer will – denn so zeigen es uns ja schließlich auch Filme, Medien oder Songtexte. Es braucht viel mehr Männer, die auch einmal über Unlust sprechen. Vor kurzem habe ich hierzu einen tollen Beitrag gesehen, hier hat Sebastian Tigges, Ehemann von Marie Nasemann, über seine Unlust in der ersten Elternzeit berichtet und das braucht es einfach noch viel mehr. Und: man kann sich dazu auch Hilfe holen! Beratung, Therapie oder kleiner Tipp: meinen neuen Audio-Kurs „Unlust – Wenn der Partner keine Lust mehr hat. Wege aus der Krise“. Hilfe zu holen ist hier einfach auch wichtig und leider ebenso ein Tabu.

Wie können Paare grundsätzlich mit der ungleichen Verteilung umgehen?

Akzeptieren, dass es so ist, ist ein wichtiger Schritt, denn es ist erstmal nicht „negativ oder positiv“.
Das ist normal und in den meisten Beziehungen so. Jeder Mensch geht einfach anders mit Bedürfnissen um. Dann ist Kommunikation ist das A und O. Hier kann man in der Paar- und Sexualtherapie aber wunderbar darüber sprechen. Allgemein, aber auch ganz konkret: Welche Bereiche sollen eher vorsichtig berührt werden oder gar nicht? Und was es kann es für Alternativen geben? Wenn sich jemand generell nicht wohl fühlt mit einer Berührung, bitte auch nicht erzwingen.
Sprecht darüber, welche Körperstellen in Ordnung sind, welche sich gut anfühlen und was ihr stattdessen machen möchtet. Die meisten Menschen sprechen einfach nicht über Sex. Sie haben Angst, als prüde zu gelten, Angst, dass sie nicht mehr gefallen. Und es ist natürlich auch wichtig, zu sprechen, um sich bewusst zu werden und die Frage zu klären: Wer ist eigentlich für die Befriedigung meiner sexuellen Bedürfnisse verantwortlich? Wichtig ist, dass man versteht:

Ich bin für meine Sexualität zuständig. Ich kann nicht erwarten, dass jemand anderes die erfüllt.

Ich empfehle auch immer, Solosex zu nutzen und Lösungen zu suchen, die für beide passen. Solosex kann hier große Erleichterung innerhalb der Paarbeziehung schaffen.

Das ist aber auch oft ein Tabuthema innerhalb von Beziehungen, oder? Ein gängiges Vorurteil: Der/die Partner:in fühlt sich dann vielleicht bedroht/ersetzt/nicht mehr gebraucht…

Ich erlebe das in meinen Beratungen manchmal, aber nicht so oft. Das ist natürlich Quatsch. Wenn man sich anschaut, wie Lust funktioniert und wie ein Orgasmus funktioniert. Da kann Solosex einfach eine totale Bereicherung für den partnerschaftlichen Sex sein. Nur durch Penetration zum Orgasmus zu kommen, ist für die Frau fast unmöglich. Man sollte also darüber sprechen, worum es beim Sex geht. Wenn beide einen Orgasmus haben sollen, können Hände und Toys eine perfekte Ergänzung sein.

Und wie können wir die Lust beeinflussen? Und ein lustvolleres Leben führen?

Das ist letztendlich auch die Frage nach Genuss und Sinnlichkeit. Wie bewusst und achtsam gehe ich durchs Leben? Nehme ich Sinnlichkeit wahr? Kann ich genießen? Oder bin ich generell lustlos? Und antriebslos? Dann sollte man da schauen, wo man ansetzen kann. Woran liegt das?
Stress ist definitiv Lustkiller Nummer eins. Wenn ich immer gestresst bin, habe ich keinen Zugang zu meinem Lustempfinden.
Ein lustvolles Leben ist ein Leben ohne Stress beziehungsweise mit wenig negativem Stress. Will man sein Leben lustvoller gestalten, sollte man also auch schauen, wo man Stress reduzieren kann.

Danke, Julia!

Julia Henchen bietet Therapien an und hat auch in ihren Büchern und ihren Kursen viele hilfreiche Tipps und praktische Übungen. Mehr zu ihren Angeboten erfahrt ihr hier.

Foto: Kim Hoss.

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