Vor Kurzen haben wir ein Zitat aus einem Artikel gepostet, das für viel Aufsehen gesorgt hat. Es ging um Vorurteile gegenüber “Einzelkindern” (hier schriebt übrigens selbst ein solches!). Solche Stigmata helfen natürlich niemandem, sie sind auch ziemlicher Quatsch, denn wie sich ein Kind entwickelt, hat ja nicht nur damit zu tun, in welcher Konstellation es aufwächst. Das ist auch alles wissenschaftlich erwiesen, genauso wie, dass das Vorurteil, Einzelkinder seien unsozialer, Blödsinn ist. Zudem – oft war die Familie eigentlich anders geplant. Dann steckt vielleicht sogar Schmerz dahinter, der hervorkommt, wenn jemand Klischees gegenüber Einzelkindern reproduziert. Andere wünschen sich ganz bewusst nur ein Kind. Aus sehr guten Gründen. Kurzum: Uns haben mehrere Eltern geschrieben, die ein Kind haben – und bei denen keine Geschwisterkinder dazu kommen werden. Drei der Leserinnenbriefe veröffentlichen wir heute. Die Welt ist einfach nicht schwarz/weiß, Labels helfen nie. Danke, dass ihr euch immer so rege an den Diskussionen beteiligt!
Einzelkinder – warum Labels niemandem helfen
Lena, Mutter von einer Tochter
Einzelkinder, darüber hat man schon viel gehört und in den wenigsten Fällen Gutes.
Es heißt, sie seien verwöhnt, egoistisch, nicht anpassungsfähig und vieles mehr. Natürlich heißt das in Wahrheit, dass die Familie dieses Kindes versagt hat – bei der Erziehung, der Wertevermittlung, dem Erlernen des gesellschaftlichen Miteinanders. Setzen, Sechs.
Ich sehe das aber ein bisschen anders, denn ich könnte mir nichts besseres vorstellen, als das Leben mit genau diesem einen Kind. Ich mag es, meinem Kind seine Wünsche erfüllen zu können: das Überraschungsei an der Kasse, der Besuch im Dinopark, den Nachmittag im Schwimmbad, jedes Wochenende das Lieblingsessen kochen.
Ich mag es, dass ich voll und ganz für dieses eine Kind da sein kann, klammern wir Erwerbs- und Carearbeit sowie Mental Load mal aus.
Zu denken, dass mein Kind damit aber automatisch ein egozentrisches Weltbild entwickelt, halte ich für zu kurz gedacht.
Unser Alltag besteht ja nicht nur aus meinem Kind, sondern auch aus unserer weiteren Familie, aus Kita und Arbeit, aus Terminen und Haushaltspflichten.
Sehr wahrscheinlich steckt mein Kind den Großteil des Tages seine Bedürfnisse und Emotionen zurück, da es sich natürlich anpassen muss. In der Kita ist es Teil eines Ganzen, es hat stundenlang soziale Kontakte, es muss sich zu einem Teil anpassen und lernt mit anderen und deren Bedürfnissen und Erwartungen umzugehen.
Wie schön ist es dann, wenn Zuhause nur noch ich, seine Mama, auf ihn warte und es endlich für ein paar Stunden es selbst sein und sich entfalten kann.
Ich sehe nicht, was daran schlecht sein soll.
Mein Kind unterliegt bereits den ganzen Tag den Normen und Erwartungen anderer und dann soll es nicht einmal Zuhause bei mir es selbst sein dürfen, sich ausleben und weitestgehend ohne Einschränkung beachtet werden?
Nein, da widerspreche ich ganz entschieden. Erst einmal lebe hier auch noch ich und ich habe eigene Bedürfnisse und Vorstellungen.
Mein Kind wird also vor allen Dingen eins: kompromissbereit.
Zudem überhäufe ich mein Kind nicht mit Geschenken, sondern vor allen Dingen mit Liebe und Zuwendung. Der Schokoriegel im Supermarkt ist doch viel mehr als ein einfacher Schokoriegel, er ist auch: Ich sehe dich und deine Wünsche.
Wahrscheinlich schütteln viele trotzdem mit dem Kopf. Sie sehen vielleicht mein Kind, das 100 Meter vor mir läuft und denken: ‘Die hat ihr Kind aber nicht im Griff’.
Ich dagegen sehe die Vertrauensbasis, die wir miteinander haben. Ich sehe die Jahre des Vorlebens, des Zutrauens in die Fähigkeiten meines Kindes.
Ich sehe seinen Wunsch bereits zur Straßenecke zu laufen und dort auf mich zu warten.
Und ich weiß, dass wir, mein Kind und ich, das können. Mein Einzelkind ist ein tolles Kind, Punkt. Genauso wie Kinder mit Geschwistern tolle Kinder sind. Daran gibt es doch gar nichts zu diskutieren.
Wenn mich stört, dass das vermeintlich verzogene Einzelkind immer alles bekommt – und ich kann euch versichern, dem ist nicht so – , dann sollte ich vielleicht hinterfragen, ob das Problem wirklich dieses Kind ist oder meine eigenen Erfahrungen und Gefühle.
Wir alle haben viel aufzuarbeiten, aber bitte lasst uns das nicht an Kindern ausleben, wenn in Wahrheit der Knackpunkt in unserer eigenen Erziehung liegt.
Communication is key – das gilt auch für Kinder und ja, ich denke, dass es oft sehr viel einfacher ist, mit einem Kind auf Augenhöhe zu kommunizieren als mit mehreren.
Aber anstatt Wertungen und Urteile übereinander aufkommen zu lassen, lasst uns doch einfach miteinander reden.
Sicherlich verstehen wir einander dann auch besser und helfen anerzogene Vorurteile über den Haufen zu werfen.
Denn diese Klischees sind ein alter Hut: Einzelkinder böse, Geschwisterkinder gut.
Es hat alles sein für und wider, aber ist es nicht wichtig, dass jede Familie ihre Zusammensetzung selbst entscheidet, ohne dafür bewertet zu werden?
Lassen wir diese anerzogenen Bilder von den kleinen Tyrannen und großer Geschwisterliebe bitte hinter uns und wenden uns den wichtigen Dingen zu: unseren Kindern, egal ob eins, drei, fünf oder acht.
Merle, Mutter eines Sohnes
Wie sehr es mich immer noch schmerzt, wenn ich etwas über “Einzelkinder” lese. Denn ich bin selbst eines – und habe es immer gehasst. Ich wollte eine große Familie, so wie meine Freunde. Mit großen Brüdern und kleinen Babys und einem vollen Familientisch. Ich hatte immer “nur” meine Eltern, die auch schon sehr alt waren (sie haben sich erst Ende 30 kennengelernt, meine Mutter war 40 bei meiner Geburt, in den 80ern war das SEHR ALT). Die waren zwar sehr liebenswürdig und zugewandt, aber eben auch alt und langweilig. Dazu kam, dass ich das Label “Einzelkind” schon immer gespürt habe. Mich deshalb extra angestrengt habe, nicht verwöhnt oder egoistisch zu wirken. Heute würde ich sagen, dass ich beides nie war.
Und nun habe ich selbst ein Einzelkind. Schnief. Das war nicht so geplant. Ich wiederhole ein bisschen die Geschichte meiner Eltern. Ich wollte erst Karriere machen. Dann, mit 37, mussten wir schon beim ersten Kind richtig doll nachhelfen. Eine Endometriose-OP habe ich auch hinter mir und nach ein paar Jahren in der Kinderwunsch-Behandlung, vielen Tränen und tausenden von Euros haben wir unseren Traum vom zweiten Kind vor drei Jahren begraben. So ist das nämlich oft. Immer, wenn ein Urteil gefällt wird, sollte man noch mal überlegen oder nachfragen, was wirklich dahintersteckt. Wir hätten so gern ein zweites, vielleicht sogar ein drittes Kind gehabt. Es war uns nicht vergönnt.
Nun haben wir eins. Und das ist ganz, ganz wunderbar. Sozial und hilfsbereit, begeisterungsfähig, sensibel, es teilt gerne, es kümmert sich. Ein Kind, so ganz anders, als jedes Einzelkind-Label es zulassen würde. Alleine, dass ich das hier noch mal betone, fühlt sich aber falsch an. Kinder sind sich einfach Kinder! Und Familienkonstellationen ergeben sich mal so, mal so. Da gibt es keinen richtigen Weg. Genausowenig, wie es einen falschen gibt.
Ich genieße es mittlerweile sehr, nur ein Kind zu haben. Eins, auf das ich mich einschießen kann, das ich komplett verstehe und kenne. Eins, dessen Bedürfnisse ich erspüren kann – und ich die Zeit und Kraft habe, darauf einzugehen. Eins, das sich zuhause so richtig erholen kann, ohne Geschwisterlärm und -Stress. Und doch bin ich immer noch wehmütig.
Ich habe eine Freundin, die zwei hat, mit der ich mich regelmäßig wohlwollend und offen über die Pros und Contras austausche. Ihr fällt es oft schwer, auf beide einzugehen. Oft reden beide auf sie ein, sie lächelt – und wird eigentlich keinem gerecht. Auch Aktivitäten zu finden am Wochenende, die wirklich beiden Spaß machen – schwierig. Sie beneidet mich also oft um dieses eine Kind und die Beziehung, die wir beide haben. Darum, wie einfach es ist, einen Babysitter für ein Kind zu finden. Darum, wie wir Urlaub machen können, weil es eben nicht nur finanziell einen Unterschied macht. Sie teilt aber auch, was schön ist. Die Lebhaftigkeit zuhause, das viele Spielen und Necken und aufeinander aufpassen. Wie schön das ist, dass die Kinder sich haben. Das sind dann die Momente, die mich traurig machen. Aber so ist es ja umgekehrt auch! Das Leben ist eben so, wir Menschen sind verschieden, die Kinder ebenfalls. Und man kann nicht immer alles haben.
Marc, Vater einer Tochter
Ich sage oft selbst, dass unsere Tochter ein typisches Einzelkind ist, was ist denn daran schlimm! Für mich ist das einfach so ein Spruch, wen das triggert, der hat ein Problem. Unsere Tochter ist unser Augenstern. Wir sind totale Helikopter-Eltern, einer von uns ist immer am Start und sie bekommt auch richtig viele Wünsche erfüllt. Ich freue mich für sie! Ich habe nämlich drei Geschwister, habe nie so eine Aufmerksamkeit bekommen und finde es wunderbar, dass mein Kind jetzt so umsorgt wird, so geborgen und behütet aufwachsen kann. Bei uns war es eine bewusste Entscheidung, nur ein Kind zu bekommen. Wir hätten keine Kapazitäten für ein zweites, weder mental, noch finanziell, der Wohnraum wäre auch nicht da. Es war immer klar: ein Kind. Ich liebe es total, so wie es ist. Und niemand sollte sich herausnehmen, das zu bewerten, außer wir selbst. Soll heißen: ICH darf sagen, dass mein Kind ein typisches Einzelkind ist, andere nicht. Das würden sie auch nie, das weiß ich. Denn, wie “unsozial”, “unerzogen” oder “egoistisch” Kinder sind, das zeigt sich ja immer außerhalb vom Elternhaus. Und da ist meine Tochter ein absolutes Vorbild-Kind, auch in der Schule. Ach ja, ich dagegen kenne einige Kinder, die bei uns schon zuhause waren, denen ich diese Labels geben würde. Die haben aber alle Geschwister. Mhhhhhh, komisch…