Von Empathie und Achtsamkeit – Wünsche für 2019
Eigentlich könnte das neue Jahr doch auch im Frühling beginnen, so wie Iraner es machen: Sie feiern Nouruz, das persische Neujahr, am Frühlingsanfang. Wenn die Sonne scheint und alles grünt, ist es ungleich einfacher, optimistisch aufs neue Jahr zu schauen. Etwas schwerer fällt es im Januar in Berlin, wenn man die Sonne gefühlt schon seit zwei Monaten nicht gesehen hat und die grau-schlammige Wolkendecke einfach nicht weichen möchte.
Jetzt kann man natürlich seinen Fitnessstudio-Vertrag, der seit einem Jahr im Leerlauf geht, mal wieder nutzen, oder sich vornehmen mit dem Rauchen aufzuhören (das macht ja auch eigentlich niemand mehr, oder?), oder mehr Zeit für sich einplanen, oder mehr Zeit für den Partner, oder die Kinder, oder kein Fleisch, oder, oder, oder.
Sich für das Denken entscheiden
Oder man könnte das neue Jahr nutzen, um ein wenig nachzudenken. Über die eigene Wahrnehmung zum Beispiel. Über, wie es David Foster Wallace nennt, unser “Default-Setting”. Mit seinem Aufruf meint er weniger das weichgespülte Wir-sollten-alle-bewusster-leben (was genau heißt das eigentlich?), sondern: Denken lernen und sich der eigenen Wahrnehmung bewusster werden. Wenn man davon ausgeht, dass alle Bilder, die auf uns einströmen, eigentlich nur ein Gefäß für unsere subjektiven Projektionen sind, scheint das gar nicht so einfach. Vor allem ist das große Problem mit unserem Default-Setting, also unserer, nennen wir es mal Standardeinstellung, dass wir das Zentrum unseres Universums sind. Aus diesem Egozentrismus auszubrechen, ist schon eine Hürde an sich. Im Alltag seine Standardeinstellung zu überwinden, das ist die große Herausforderung: Nämlich nicht verurteilen oder alles an sich vorbeiziehen lassen, sondern sich bewusst fürs Denken entscheiden.
Das schreiende und weinende Kind vor dem Bäcker, deren Mutter drinnen Brötchen kauft – wir können “die Rabenmutter” im Laden verurteilen, die ihr armes Kind weinend vor der Tür stehen lässt. Oder wir denken nach: Vielleicht haben beide einfach heute einen dieser Tage, an denen alles schief läuft, vielleicht ist sie sonst die liebevollste Mama überhaupt, heute aber eigentlich krank und ihre Tochter mitten in den “terrible twos/threes/fours”? Und wer weiß, was gerade sonst noch im Leben dieser Frau los ist.
Weniger urteilen, mehr Raum lassen
Anstatt nun einen verurteilenden Blick zu werfen (wir Mütter können das übrigens besonders gut, Hashtag MommyWars) könnte man sich für eine andere Version der Wahrheit entscheiden, eine die außerhalb unseres Default-Settings liegt. Also nicht, “die strenge Assi-Mutter lässt ihr armes Kind, vor der Tür stehen”, sondern “oh, da hat jemand keinen guten Tag.” Und dann: Könnte ich helfen? Sollte ich mich einmischen? Habe ich gerade die Kapazitäten dafür und wem bringt das dann was?
Man kann im Alltag immer wieder hinterfragen, was und warum wir wie denken. Es ist nicht einfach, über den Tellerrand zu schauen und andere Perspektiven zu erkennen. Verständnis zu zeigen, aufmerksam zu sein. Vor allem, weil es so schön bequem ist, zu meinen, man wisse Bescheid. Über andere zu mutmaßen, weil man aus seiner individuellen Erfahrung denkt zu wissen, wie der Hase läuft. Es fordert eine ganze Menge Disziplin, sich immer wieder daran zu erinnern, dass die Dinge ganz anders sein könnten, als man annimmt. Und man wird nie nicht irgendwie jemanden mal verletzten, weil man sich beispielsweise mal wieder beschwert, die Kinder seien so nervig, und am selben Tisch sitzt jemand, der gerade (wieder) eins verloren hat. Solche Dinge passieren, aber man kann sich Mühe geben, Tag ein und Tag aus, sensibel und umsichtig zu sein.
Stellt Fragen!
Also, was haltet ihr davon? Für 2019 können wir uns alle einmal vornehmen, offener zu sein und mehr über unsere Mitmenschen zu lernen. Denn meist ist vieles anders, als es unsere Standardeinstellung erstmal erlaubt und als es unsere Filterbubble uns zeigt. Wie John F. Kennedy mal in seiner “We choose to go to the Moon”-Ansprache sagt: The greater our knowledge increases, the greater our ignorance unfolds. Das lässt sich von der Wissenschaft auch ins Menschliche übertragen: Umso mehr wir über den Anderen erfahren, desto bewusster wird uns die eigene Ignoranz.
Ich glaube nicht an das US-amerikanisch geprägte neoliberale Motto, dass man möglichst versuchen sollte, “the best version of oneself” zu sein. Der Glaube an eine stetige progressive Steigerung, dass wir uns als Menschen linear auf etwas “Besseres”, “Größeres” hinzubewegen, als das was vorher war, hat mehr mit dem Kapitalismus zutun, als mit der vermeintlichen Natur des Menschen. Müsste man dann nicht auch immer “besser” werden, je älter man wird? Was für eine gruselige Vorstellung. Tatsächlich ist doch etwas anderes der Fall: Man wird -hoffentlich- selbstkritischer, man lernt, hinterfragt. Man weiß, dass es nicht den “einen Weg” gibt. Ich glaube, wir können nur immer wieder versuchen, die Augen offen zu halten, empathisch mit unseren Mitmenschen umzugehen, neugierig zu sein, das Andere zu sehen und zu akzeptieren. Und nicht alles in unseren Gleichschaltungsprozess einbinden, wie Katharina schon einmal so treffend beschrieben hat.
Mehr Verständnis und Aufmerksamkeit
Das kann ganz schön anstrengend sein. Es wird einem nicht jeden Tag gelingen. Aber wichtig ist, dass man sich klar macht: Ich habe die Wahl. Ich kann bewusst entscheiden, was bedeutsam ist. Ich kann mich bewusst dafür entscheiden, nicht zu verurteilen. Ich kann mich jeden Tag in Empathie üben, mitfühlend sein, nicht abstumpfen. Vielleicht ist der Jahresanfang dafür doch gar nicht so schlecht geeignet, vielleicht will mir der regnerische Berliner Himmel auch gerade das sagen: Du hast die Wahl, schlecht gelaunt über den grauen Alltag zu jammern oder dich über die Menschen, die Möglichkeiten und die Freiheit des Denkens zu freuen.