“Der Rassismus tut so, als wäre er gar nicht da” – aber er steckt zum Beispiel in Kinderbüchern und -liedern…

"Rassistisch, ICH?" Ihr wisst, was jetzt kommt. Das, was so viele von uns in den letzten Monaten erkannt haben. Mittlerweile würde ich behaupten, wir sind ALLE rassistisch sozialisiert. Nicht aus böser Intention, aber weil die Strukturen so tief verankert sind, dass wir gar nicht anders können. Je länger ich darüber nachdachte, je mehr kritische Situationen aus meiner Kindheit und Jugend fielen mir ein. Und seien wir ehrlich. So ist es heute auch noch. Auch unsere Kinder werden nicht so tolerant und weltoffen groß, wie wir uns das eigentlich wünschen. Wo sind diese Rassismen versteckt? In Spielen, Geschichten, Liedern zum Beispiel... Und wie gehen wir am besten damit um? Dazu habe ich Sohra Behmanesh von Tofu Family interviewt.

Sohra hat sich sehr intensiv mit dem Thema befasst, das kann man hier nachlesen, aber auch auf Instagram meldet sie sich häufig zu Wort. Im Interview hat sie viele Begriffe mit einem Sternchen markiert. Sie nennt diese “Schmerzwörter” und das Sternchen kann man einfach so verstehen, dass wir alle lernen sollten, diese Begriffe völlig aus unserem Wortschatz zu streichen. Das geht ganz leicht – und tut dann vielen Menschen nicht mehr weh.

Liebe Sohra, ich glaube, viele Menschen waren in den letzten Wochen extra wachsam, denn sie mussten sich eingestehen, dass sie selbst rassistisch sozialisiert worden sind. Was für eine Rolle spielt dabei Rassismus in Spielen, Büchern und Liedern für Kinder?

Wachsamkeit ist ein gutes Schlagwort! Rassismus in Kinderliedern, Kinderbüchern und Spielsachen verhält sich wie überall sonst auch: Er tut so, als wäre er gar nicht da. Das ist ja das Problem, es reicht nicht, guten Willens zu sein, denn Rassismus ist so fester Bestandteil der Weltordnung und unserer Sozialisation, dass wir uns extra Wissen aneignen und Sensibilisierung üben müssen, um ihn überhaupt zu bemerken. Es reicht leider nicht aus, gegen Rassismus zu sein. Wir müssen bereit sein, da echt Arbeit reinzustecken, und auch auszuhalten, dass das keine bequeme Angelegenheit wird. Sich mit Rassismus in diesem Kontext auseinanderzusetzen, bedeutet mitunter auch, dass Autor*innen, fiktive Figuren oder Spiele, die wir in unserer eigenen Kindheit heiß geliebt haben, nun in einem kritischen Licht erscheinen. Damit tun sich viele Menschen schwer, und gleichzeitig gehört das notwendigerweise zur Aufarbeitung unserer eigenen rassistischen Sozialisation dazu – und ist auch unumgänglich, wenn wir verstehen wollen, wie diese Dinge auch unsere eigenen Kinder prägen. 

Wie wirksam sind Spiele, Bücher und Lieder für Kinder denn? Und welche problematischen Botschaften können vermittelt werden?

Das kann ganz unterschiedlich aussehen. Am häufigsten finden sich Stereotypisierung, also klischeehafte Darstellungen von bestimmten Menschen, zum Beispiel wenn Afrikaner*innen mit Bastrock dargestellt werden, vielleicht sogar als feindselige Kannibal*innen, oder Asiat*innen mit gelber Haut und Kegelhut, die kein „r“ aussprechen können. Es gibt aber öfter als man denkt blanke, rassistische Vorurteile, wenn z.B. Janosch-Figuren von verlausten Z*geuner*innen sprechen. Besonders erschreckend ist, wie häufig man in Geschichten sieht, wie Braune/Schwarze Menschen sich vor Weißen auf den Boden werfen und verneigen – das ist schlicht die Reproduktion von Kolonialismus und Weißer Vorherrschaft, auf Englisch auch White Supremacy genannt. Das findet man bei Pippi Langstrumpf, in Donald-Duck-Comics, letzte Woche habe ich es in einem Pixi-Büchlein mit Käpt’n Blaubär gesehen. Rassismus findet aber auch durch Unsichtbarmachen, durch Nicht-Repräsentation statt, wenn z.B. alle Protagonist*innen oder Figuren Weiß sind. Natürlich denken viele Menschen dann: „Ja, aber ich bin auch damit aufgewachsen und ich bin kein*e Rassist*in.“ Und wenn man denkt, Rassist*innen seien nur Menschen, die Geflüchtetenheime anzünden, mag das stimmen, aber das ist ein eher verkürztes Verständnis von Rassismus.

“Wenn wir damit aufwachsen, dass Braune und Schwarze Menschen abgewertet dargestellt werden, dann macht das etwas mit unserem Weltbild.”

Ein gutes Beispiel dafür ist unser sehr eindimensionales Bild von Afrika. Wenn in Kinderbüchern Afrika vorkommt, dann hat das entweder mit Löwen, Giraffen und Elefanten zu tun, oder mit eher primitiv dargestellten Schwarzen Menschen in Strohhütten, oder mit Armut und Hunger. Dass Afrika ein enorm heterogener Kontinent ist, kriegt man aus Kinderbüchern nicht mit – und diese Wissenslücke füllen wir als Erwachsene kaum auf.  

Das ist so wahr. Hast du ein paar konkrete Beispiele, welche Bücher du schwierig findest?

Es wäre wohl einfacher, einige Beispiele von Büchern zu nennen, die ich nicht schwierig finde. Wenn ich nicht nur Rassismus berücksichtige, sondern auch andere Diskriminierungsformen wie Sexismus oder Fatshaming (also die Abwertung von dicken Menschen) im Blick behalte, dann bleibt wirklich enorm wenig übrig. Oft ist es aber so, dass sich einzelne Sätze beim Vorlesen modifizieren lassen, oder man lässt bestimmte Kapitel weg. Bei Instagram habe ich einen Hashtag dazu ins Leben gerufen: Unter #wasichnichtvorlese poste ich Kinderbücher oder Textstellen, die ich gar nicht oder nicht so, wie es da steht vorlese. Pippi Langstrumpf ist ein gutes Beispiel: Man kann weite Teile selektiv vorlesen, in denen man die Stellen, in denen sie erzählt, ihr Vater sei ein N-König bzw. ein Südseekönig, überspringt, aber die Bücher und Geschichten, in denen es um die sogenannte Taka-Tuka-Insel geht, gehen wirklich gar nicht. Auch Jim Knopf halte ich für vollständig unvorlesbar, da es so rassismusdurchwoben ist, dass da durch selektives Vorlesen nichts zu retten ist. Ausführlicher kann man das in meinem Artikel „Rassismus und Sexismus in Kinderbüchern“ nachlesen.

Bücher über sogenannte I*dianer kommen mir übrigens gar nicht erst ins Haus. Pauschal kann man sagen, dass hierzulande praktisch jedes Buch über sogenannte I*dianer dazu beiträgt, den Genozid an den ersten Bewohner*innen Nordamerikas unsichtbar zu machen, sie als „Edle Wilde“ zu romantisieren und zu mystifizieren, und damit ihre Lebensrealität zu verfälschen und zu missbrauchen. 

Wenn ich solche Bücher jetzt zum Beispiel schon zuhause habe. Sollte ich sie verschwinden lassen oder das Thema lieber mit den Kindern ansprechen?

Das ist ein kontroverses Thema. Ich höre häufig Eltern sagen, dass man die Kinder nicht von diesen Dingen abschirmen könne, und es eigentlich nur wichtig sei, mit den Kindern darüber zu sprechen. Sie wollen damit rechtfertigen, weiterhin Pippi Langstrumpf und Jim Knopf vorzulesen. Was mir dabei aufgefallen ist, dass diese Eltern ausnahmslos selbst nicht von Rassismus betroffen sind, und ich glaube, dann ist es leicht, in die Falle zu tappen, und zu denken: „So schlimm ist das nicht.“ – denn es stimmt: Für einen selbst ist es dann gar nicht so schlimm. Für jene, die von Rassismus betroffen sind ist es aber schlimm. Aus meiner Erfahrung ist es auch so, dass gerade diese Eltern gar nicht das rassimuskritische Wissen haben, um ihren Kindern verständlich zu machen, inwiefern Jim Knopf und Pippi Langstrumpf Schwarze und Braune Menschen stereotypisieren, abwerten und stigmatisieren. 

Natürlich ist es wichtig, mit unseren Kindern über Rassismus zu sprechen. Dafür müssen wir uns aber selbst rassismuskritisch bilden. Und wenn man das gemacht hat, ist es auch keine Frage mehr, ob man Jim Knopf nicht mehr vorlesen darf, sondern es ist irgendwie klar, dass man Jim Knopf nicht mehr vorlesen will, einfach, weil man dann verstanden hat, wie schmerzhaft, wie ungerecht diese Inhalte sind. 

Welche Lieder sind rassistisch und warum?

Ich glaube, das bekannteste Kinderlied, das leider unbedarft gesungen wird, ist „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. Was hat denn der Polizist da zu suchen wieso problematisiert er den Umstand, dass da drei Chinesen mit einem Kontrabass sitzen? Der Polizist sagt ja auch nicht: „Drei Leute mit dem Kontrabass“, sondern für ihn ist es ein Thema, dass es „drei Chinesen“ sind. Wieso sollte das erwähnenswert sein? Ein hochaktuelles Pendant dazu ist schlicht: Racial Profiling. Da kann man natürlich lamentieren, dass das da hineininterpretiert sei, und tatsächlich ist es für Menschen, die selbst nicht von Rassismus betroffen sind, schwierig so etwas in Gänze nachzuvollziehen, aber sie können nicht der Maßstab sein. Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, denken, etwas das nicht rassistisch gemeint sei, könne nicht rassistisch sein – aber es kommt eben nicht auf die Intention an, sondern auf die Wirkung.

“Der Maßstab muss immer sein: Wie fühlen sich jene, die betroffen sind?”

Ein anderes exemplarisches Lied ist „Alle Kinder lernen lesen“, das gerne zu Einschulungen gesungen wird. Darin heißt es: „Alle Kinder lernen lesen, I*dianer und Chinesen, selbst am Nordpol lesen alle E*kimos. Hallo Kinder jetzt geht’s los!“ Da  wurden sich also einige Volksgruppen rausgesucht, die hierzulande als besonders „exotisch“ gelten, um deutlich zu machen, dass alle-alle, also WIRKLICH alle, sogar die!! lesen lernen. Mir wird gerade tatsächlich schlecht, während ich dies hier schreibe, weil es mir in Mark und Bein geht, wie viel Abwertung und Exotismus da zwischen den Zeilen schwingt. Mal ganz davon abgesehen, dass in dieser Strophe für zwei Volksgruppen eine Fremdbezeichnung verwendet wird, die von den Betroffenen selbst abgelehnt wird, und es nicht einmal stimmt, dass alle Kinder dieses Planeten lesen lernen (können oder dürfen). Ein anderes problematisches Lied  ist „Aramsamsam“, weil es darin um nichts anderes geht als die Verballhornung des islamischen Gebets. Das ist einfach nicht okay.

Oh, das mit Aramsamsam wusste ich nicht. Aber es macht natürlich völlig Sinn… Ich erinnere mich auch, dass wir in der Grundschule immer „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann gespielt haben“. Wird das noch gespielt? 

Ich habe vor einiger Zeit von Eltern gehört, dass ihre Kinder in der Schule nun „Wer hat Angst vorm bösen Mann“ spielen. Ich verstehe irgendwie nicht, warum es überhaupt ein bedrohliches Feindbild geben muss, man kann doch auch auf kreativere Weise ein spaßiges Fange-Spiel spielen? Ich habe einige (Weiße) Menschen sagen hören, dass sie in ihrer Kindheit gar nicht an einen Schwarzen Mann (also mit einem afrikanischen Hintergrund, absichtlich groß geschrieben, da es hier nicht um das Farbadjektiv, sondern um eine Selbstbezeichnung geht) gedacht haben, sondern eher das Bild von einem Schornsteinfeger oder so im Kopf hatten. Ich denke, da gibt es sicherlich unterschiedliche Assoziationen. Ich weiß aber von vielen Schwarzen Menschen, dass es ein echtes Problem für sie ist, wie negativ und/oder angstbesetzt „schwarz“ in unserer Gesellschaft ist. Und gerade für Schwarze Männer ist ihre vermeintliche Bedrohlichkeit ein gängiges, immer noch aktuelles vorurteilsbehaftetes Stereotyp. Und ich glaube, wir können es Schwarzen Kindern, Schwarzen Eltern oder Lehrer*innen ruhig ersparen, sich fragen zu müssen, ob die Kinder, die gerade dieses Spiel spielen, an einen (Weißen) Schornsteinfeger oder an einen afro-deutschen Mann zu denken. Mir fällt einfach kein Grund ein, an diesem Spiel festzuhalten. 

Wie kann man das in Kita und Schule ansprechen?

Ja, das ist eine heikle Angelegenheit. Für die meisten Menschen ist es ja ein Affront, wenn man sie darauf anspricht, dass irgendetwas, das sie tun, mit Rassismus zu tun haben könnte. Erfahrungsgemäß wird es immer schwieriger, je anti-rassistischer ein Mensch sich selbst sieht. Das Problem ist aber eben, dass die meisten Menschen, die sich selbst als anti-rassistisch verstehen kein rassismuskritisches Wissen besitzen, und deshalb unvermeidbar und unwissentlich Rassismus reproduzieren. Ich habe von verschiedenen Braunen und Schwarzen Eltern gehört, dass es gerade an Schulen, die sich mit dem Logo „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ schmücken, für sie besonders schwer ist, rassistische Vorfälle zu thematisieren und aufzuarbeiten, weil sich die Lehrer*innenschaft auf ihr Mitwirken bei der Kampagne bezieht und sagt: „Kann ja gar nicht sein, bei uns gibt es keinen Rassismus!“ Eigentlich müsste Rassismussensibilisierung Teil einer jeden pädagogischen Ausbildung sein, denn Erfahrungsberichte wie unter dem Hashtag #metwo, der vor zwei Jahren viral ging, haben gezeigt, dass viele rassistische Erfahrungen ausgerechnet durch Erzieher*innen und Lehrer*innen stattfinden. Trotzdem ist man natürlich nicht machtlos: Man kann sich z.B. als Eltervertreter*in dafür stark machen, dass die Pädagog*innen rassismuskritische Fortbildungen machen. Oder man kann Braune und Schwarze Eltern unterstützen, die rassistische Vorfälle ansprechen. 

Sprache ist unheimlich wichtig. In vielen Büchern kommen rassistische Äußerungen vor, hier auch wieder: Würdest du sie verändern oder besprechen? 

Meine Kinder werden niemals erleben, dass ich absichtlich rassistische Sprache reproduziere. Das wird einfach nicht passieren. Was bedauerlicherweise mit Sicherheit passieren wird, ist, dass ich das aus Versehen mache – weil ich beim Vorlesen nicht schnell genug schalte, oder auch, weil mir an bestimmten Stellen das Wissen fehlt, um Rassismus zu erkennen und zu vermeiden. Aber wenn ich weiß, dass bestimmte Begriffe für bestimmte Menschen Schmerzwörter sind, benutze ich sie natürlich nicht mehr. Das hat für mich nichts mit „Political Correctness“ zu tun, sondern damit, dass bestimmte Begriffe für bestimmte Menschen wahnsinnig schmerzverknüpft sind, und zwar nicht, weil sie irgendwie „überempfindlich“ sind, sondern weil das mit systematischer Marginalisierung, struktureller Diskriminierung, auch mit transgenerationalem Trauma zu tun hat. Darauf möchte ich Rücksicht nehmen, und dies auch meinen Kindern vermitteln. 

Kinder sind oft sehr offen und sagen: „Der Mann ist aber dunkel“, oder „Die ist ja dick!“ Wie damit umgehen?

Bloß nicht peinlich berührt reagiert! Es ist nichts dabei dunkel oder dick zu sein, wenn wir aber vor Scham im Boden versinken möchten, dann senden wir unserem Kind eine Message: „Stell nicht solche Fragen, man redet nicht darüber, wenn Menschen dunkel oder dick sind!!“ Viel sinnvoller wäre es, Kindern zu vermitteln, dass Unterschiede einfach gegebene Tatsachen sind: „Ja, so unterschiedlich sind wir in manchen Hinsichten. Und das ist okay so.“ Was ich wirklich wichtig finde, ist, dass wir (selbst lernen und) unseren Kindern vermitteln, dass es kein Recht auf Befriedigung von Neugierde gibt. Natürlich sind Kinder neugierig und das ist wichtig und gut, aber wenn sich die Neugierde auf bestimmte Menschen bezieht, ist gleichzeitig Sensibilität und Respekt für persönliche Grenzen wichtig. Bei vielen diskriminierten Menschen ist die an sie herangetragene Neugierde von erwachsenen und jungen Menschen eine echte Belastung im Alltag, weil sie exotisiert, weil sie othert (vom Englischen „other“ = jemanden zu etwas „Anderem“ machen) werden, und weil diese immer gleichen Fragen und Sprüche schlicht nerven. Mit Kindern über Rassismus bzw. Diskriminierung zu sprechen, ist auf jeden Fall eine große Herausforderung. Ich kann euch dazu noch mal meinen Artikel „Wie wir rassismuskritische Kinder erziehen“ empfehlen!

Danke, Sohra!!

Foto: Aaron Burden