Es ist mir passiert. Der Alptraum eines jeden Elternteils: Das Kind ist weg und keiner weiß, wo es steckt. Vor nicht allzu langer Zeit schrieb Isabel noch über darüber, ab wann man sein Kind eigentlich auch “mal kurz” allein lassen kann. Was uns am Wochenende geschah, war allerdings nicht ein Fall von “kurz alleine lassen”, es geschah innerhalb weniger Sekunden: Ich drehte mich um, um das Fahrradschloss zu öffnen und als ich nach meinem Sohn schaute, war er weg.
Hilfe! Das Kind ist weg!
Wir waren auf dem Rummel in einem großen Berliner Park. Die Sonne schien, es war staubig und heiß. Musik dröhnte von den Fahrgeschäften herüber, Kinder liefen im Zucker-High umher. Komplette Reizüberflutung. Wir waren mit einer anderen Familie dort, der beste Kumpel meines Sohnes war dabei. Nach einigen Autoscooter- und Wasserrutschenfahrten, verließen wir den Platz und gingen zu unseren Fahrrädern. Mein Sohn und sein Freund spielten, ich schloss mein Fahrrad auf – drehte mich um – und weg war er. Ich rief nach ihm. Nichts. Ich fragte unsere Freunde, die ihn auch gerade noch gesehen hatten, aber keiner wusste, wo er steckte.
Erstmal blieb ich ruhig
Keine Panik, dachte ich. Er kann nicht weit sein. Vielleicht ist er schon vorgelaufen. Ich schnappte mir mein Fahrrad und fuhr los. Rief seinen Namen. Ein paar Leute fragten mich, ob ich meinen Hund suche. Nein, rief ich, meinen Sohn. Wie alt der sei? Fünf, antwortete ich. Was er anhabe – was hatte er heute eigentlich an? Es war schwer, sich zu konzentrieren. Endlich fiel es mir wieder ein: Kurze, braune Hose, graues T-Shirt. Ich radelte weiter. Meine Freundin und ihr Sohn fuhren auch los und suchten die andere Richtung ab.
Oft hatte ich dieses Szenario mit meinem Sohn durchgesprochen: Wenn wir uns mal verlieren, dann gehen wir immer wieder dahin, wo wir uns das letzte Mal gesehen haben, ok? Nie mit jemand Fremden mitgehen! Wenn du dich verlaufen hast, sprich eine andere Mama an. Und so weiter… Alles schön in der Theorie. Jetzt war er weg und die Panik kroch in mir hoch.
Wie in einem schlechten Film
Es waren ca. fünf Minuten vergangen. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, nachzudenken. Vielleicht ist er zurück auf den Rummel gelaufen? Und jetzt weiß er nicht mehr, wo wir sind? Ich lief zur Rutsche. So viele Menschen, laute Musik. Wenn er hier irgendwo ist, werden wir ihn nie finden, dachte ich. Nun waren zehn Minuten vergangen und ich bekam Angst. Plötzlich schien alles surreal. Wie in einer schlechten Tatort-Folge. Rummel, komische Menschen, die Bier trinken, Kind entführt. Für einen Moment dachte ich, das wars jetzt. Tränen schossen mir in die Augen. Umso länger das Kind weg ist, desto größer wird die Panik, denn mehr Zeit heißt auch, der Umkreis in dem er sein könnte, wird größer und größer. Wie sollte ich ihn finden? Und ab wann ruft man eigentlich die Polizei? Nach 20 Minuten, 30, einer Stunde? SOFORT??
Mit einem Mal fielen mir all die trinkenden Menschen ein, die ich gesehen hatte. Alles schien plötzlich feindlich. Eine junge Frau im Blumenkleid fuhr sichtlich glücklich auf dem Fahrrad vorbei. Wie absurd die Parallelität des Lebens ist, hier ist das große Drama, und sie fährt vielleicht zu einem Date. Hier stehe ich voller Angst, und für andere ist es ein ganz normaler Tag. Was, wenn ihn jemand mitgenommen hat? Mir wurde schlecht, ich rannte über den Rummel. Noch vor Kurzem hatte ich die Geschichte einer jungen Frau gehört, die hier in derselben Gegend überfallen wurde. Nun war scheinbar alles möglich.
Ich lief wieder raus, zurück zur Stelle an der er verschwunden war. Dann sah ich, wie eine Familie meinen Sohn aus dem Gebüsch holte, er weinte, er sah mich, ich weinte, er rannte mit weit geöffneten Armen auf mich zu. Ich hielt ihn fest, küsste ihn. Noch nie hat sich eine Umarmung so existenziell, so intensiv, so schön angefühlt. Es waren nur 15 Minuten vergangen. Eine Ewigkeit, wenn man sein Kind sucht.
Man kann sich und das Kind vorbereiten
Mein Sohn erzählte mir, dass er einen Streit mit seinem Freund gehabt habe und sich daraufhin hinter einem Baum versteckt hätte. Er war also eigentlich die ganze Zeit an dem Ort, an dem ich ihn “verloren” hatte. Er hatte sich einfach nur versteckt. Ich war überglücklich, ihn wieder in meinen Armen zu haben, aber ich hatte auch ein schlechtes Gewissen: Hätte ich diese, wenn auch kurze, aber dramatische Episode verhindern können? Hätte ich “schneller” mein Fahrrad aufschließen können? Natürlich nicht. Wie Susanne von Geborgen Wachsen schreibt, “(…) auch wenn Eltern aufmerksam sind, können Kinder verloren gehen.” Susanne hat auch zwei praktische Listen zusammengestellt, wie man Kinder und sich selbst auf solch eine Situation vorbereiten kann (eine Trillerpfeife zum Beispiel), und dass man nach zehn Minuten schon die Polizei rufen könne. Manche Eltern schreiben auch ihre Handynummer auf die Arme ihrer Kinder, es gibt sogar Armbänder dafür. Esther vom Babyccino Blog hat ihre vierjährige Tochter mal an einem vollen Strand verloren (und nach wenigen Minuten wieder gefunden). Sie wird in Zukunft immer vorher einen Treffpunkt ausmachen. Ich habe diese Notfallarmbänder für meinen Sohn bestellt. Wenn wir das nächste Mal im Park unterwegs sind, oder bei Ausflügen, wird er es tragen.
In Südamerika fangen die Leute an zu klatschen, wenn ein Kind am Strand verloren geht – so wissen gleich alle Bescheid und gemeinsam wird dann nach dem Kind gesucht. Finde ich irgendwie toll, und ist wahrscheinlich auch sehr effizient.
Dass ein Kind verschwindet, kann man leider nicht vollständig verhindern, aber man kann das Risikio minimieren, indem man sich und das Kind vorbereitet und Regeln ausmacht (“Wenn du mich nicht mehr siehst, dann bleib stehen.”).
Ich werde den Tag nie vergessen und bin für eine Weile sicherlich erstmal komplett “übervorsichtig” (was mein Sohn bestimmt nervig findet). Zu groß war die Angst, zu tief sitzt noch der Schock. Gestern Abend habe ich ihn extra fest umarmt.