Das Lied vom Babyblues
„Willkommen Paul, du bist die Liebe meines Lebens!“, „Wir sind zu dritt und ich war noch nie so glücklich.“, “Kann kaum in Worte fassen, wie glücklich wir sind – endlich komplett!“
Gefühlt lese ich jeden Tag mit Zuckerguss verzierte Liebeserklärungen an Neugeborene auf Facebook, Instagram und Co. Mal abgesehen von dem Fakt, dass ich solch persönliche Worte in aller Öffentlichkeit nie ganz nachvollziehen konnte, bestätigten sie mir, dass so ein Baby ja wirklich eine verdammt gute Sache sein muss. Und auch wenn sich während der Schwangerschaft schon abzeichnete, wie gerne man doch einen wachsenden Zellklumpen haben kann, war ich wahnsinnig gespannt auf das erste Kennenlernen und machte mich auf ein Feuerwerk der Gefühle gefasst. Doch dann kam alles anders…
Hallo Realität!
Viele Stunden und etliche Komplikationen später war klar, es muss ein Kaiserschnitt her. Die Angst war mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn immer wieder wurde ich mit den Worten getröstet: „Das Tolle ist, in 10 Minuten haben sie ihr Baby.“ Zehn Minuten? Darauf war ich nicht vorbereitet. Viel zu abstrakt, viel zu absurd. Hilfe. Das Versprechen wurde gehalten und wenige Minuten später wurde mir, wie bei einer mittelmäßigen Zaubershow, ein Baby hinterm Vorhang präsentiert und als unseres vorgestellt. Tadaaaa!!! Erleichterung und vor allem jede Menge Erschöpfung. Nach einer kurzen Untersuchung wird mir das schreiende, kleine, weiche Bündel auf die Brust gelegt und es fühlt sich gut an. Gut – mehr aber nicht. Kommt schon noch, denk ich und möchte einfach nur schlafen. Zurück im Zimmer gehen mir tausend Sachen durch den Kopf, ich merke wie ich mir Druck mache, direkt funktionieren will… muss ich nun auch mein Glück öffentlich teilen? Wann kommt es denn nun, das Verliebtsein? Ist das wirklich mein Baby? Wieso fühle ich es nicht? Erst mal abwarten, mit den Schmerzen klar kommen, Besuch empfangen, Anlegen üben, Essen runterwürgen, und und und… was man nicht alles zu tun und zu lernen hat, in vier Tagen Krankenhausaufenthalt. Ich tue das was man mir sagt, doch am liebsten hätte ich einfach gern meine Ruhe.
In den eigenen vier Wänden
Endlich können wir nach Hause und ich kann es kaum erwarten, ins gewohnte, heimelige Umfeld zurückzukehren. Zu Hause wird alles gut, denke ich, dann werde ich endlich merken, wie glücklich ich bin. Doch kurz nach dem Aufwachen, am ersten Morgen, überkommt mich eine unglaubliche Traurigkeit und ich beginne sofort, alles in Frage zu stellen: Was hab ich mir nur dabei gedacht? Unser Leben war doch vorher genau richtig, so wie es war. Neben mir sehe ich einen verliebten Vater, der wie selbstverständlich mit unserem Baby umgeht. Ich hingegen habe Schmerzen und fühle mich mit der neuen Situation überfordert. Außerdem habe ich Gedanken, die man definitiv nicht haben sollte und versuche den Zustand erst mal mit mir selber auszumachen. Warum bin ich so traurig? Ich schäme mich und fühle mich undankbar. Gefühlschaos – kaum in Worte zu fassen.
Der Babyblues
Es vergeht ein weiterer Tag und die Stimmung ist noch immer auf dem Tiefpunkt. Nun kann ich sie auch nicht mehr vor meinem Freund verbergen, der mich immer wieder in den Arm nimmt und mich beruhigt und mir bestätigt, dass das nach all den Strapazen völlig ok ist und ich mir Zeit geben muss. Aber ich bin ungeduldig. Also google ich meine Zustand und verspüre große Erleichterung, als ich einen Begriff finde, der alles zusammenfasst: Babyblues. Angeblich haben ihn acht von zehn Frauen und er beschreibt haargenau das, was ich gerade empfinde. Überforderung, Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Ängste, Stimmungsschwankungen, tiefe Traurigkeit und viele viele Tränen…
Zu lesen, dass es vielen anderen Frauen auch so geht, beruhigt mich. Schuld sind, wie so oft in den letzten Monaten, wieder mal die Hormone. Puh… ich bin also nicht verrückt, es ist alles in Ordnung. Und doch frage ich mich, wieso ich keine in meinem Umfeld kenne, die Ähnliches gefühlt hat. Bei acht von zehn Frauen muss doch mindestens eine dabei gewesen sein. Wieder mal eines der Tabuthemen, über das niemand sprechen möchte? Aber warum? Aus Angst, keine gute Mutter zu sein?
Ehrlichkeit statt Perfektionismus
Also frage ich mich: Wann hören wir endlich auf, nach außen hin ein perfektes Bild abgeben zu wollen? Würden wir doch ehrlicher über Unzulänglichkeiten und zwiespältige Gefühle sprechen, würden wir uns dabei helfen, uns eine riesige Last von den Schultern nehmen. Wie viel Mut es doch machen würde, wenn es auch Willkommens-Posts auf Instagram geben würde, die nicht nur die rosarote Brille tragen würden, sondern zum Beispiel lauten würden; „Wir müssen uns noch ein wenig aneinander gewöhnen, aber ich glaub wir finden uns ganz ok. Der Rest kommt schon noch.“ oder „Wir sind zwar gesund aber noch lange nicht munter, der Babyblues hat zugeschlagen und sinnloses Weinen steht auf der Tagesordnung.“ Wann fangen wir endlich an, nicht immer nur die schönen und perfekten Seiten von uns zu zeigen. So genannte Schwächen machen uns nicht verletzlich, sondern mutig und stark. Darüber zu reden ist so wichtig – mit dem Partner, der Familie und den Freunden. Denn nur so kann man Hilfe bekommen, in den Arm genommen werden und ein tröstendes „Es wird alles gut“ ins Ohr geflüstert bekommen. Denn das wird es, es wird alles gut. Und zwar ab dem Moment, wo man sich nicht für seine Gedanken und Gefühle schämt, sondern den Weltschmerz zulässt. Und kurze Zeit später wache ich morgens auf, mit einem fetten Grinsen im Gesicht, welches seitdem von Tag zu Tag größer wird. Der Babyblues hat seine Gitarre geschnappt und ist weitergezogen.