Jessica Barthel ist in Leipzig geboren, aber in Bayern aufgewachsen. Später zog es sie in die große, weite Welt – nach New York nämlich! Sie arbeitet mittlerweile sehr erfolgreich als Fotografin und mit ihrem Mann Daniel lebt sie zwischen Leipzig und Berlin, denn die kleine Familie hat 2019 waghalsig ein großes Haus auf dem Land in der Nähe ihres Geburtsorts gekauft – und dachte zwischendurch, vor allem während der Corona-Lockdowns: “Wir bleiben hier, wir gehen nicht mehr zurück in die Stadt”. Das wurde es dann doch nicht, aber viel zu erzählen hat Jessica dennoch. Über das Stadt- und das Landleben, das Renovieren und Sanieren, und über Gleichberechtigung und das Stillen. Wir haben die drei in ihrem malerischen, zweiten Zuhause besucht und einen wunderschönen Sommertag verbracht!
Jessica Barthel mit Daniel und LouEs war anstrengend. Aber ich würde es nochmal genau so machen.


Liebe Jessica, du hast eine bewegte Familiengeschichte und hast auch mal in New York gelebt, erzähl doch mal!
Ja, bewegt – das kann man so sagen. Ich bin 1984 in Leipzig geboren. Als ich fünf war, sind meine Eltern mit mir über die Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich nach Westdeutschland geflohen, das war wenige Tage vor dem Mauerfall. Ich kann mich nicht an Vieles erinnern, aber daran, dass die Grenzer die Köpfe meiner Puppen abschraubten, um zu kontrollieren, ob wir darin Geld versteckt hatten. Das hat sich bei mir sehr eingeprägt. Ich bin im Berchtesgadener Land aufgewachsen, habe mich aber in Bayern nie richtig wohl gefühlt, die Berge haben mich eingeengt und in den Ferien bin ich immer gerne zu Verwandten nach Leipzig gefahren. Aber New York war für mich schon immer ein Sehnsuchtsort. Ich wusste früh, dass ich da mal hinziehen und Anwältin werden möchte. Zwei Wochen nach meinem Abitur ging es dann auch wirklich direkt in Richtung Big Apple, aus der Anwältin wurde allerdings eine Fotografin.
Du hast also dann dort Fotografie studiert?
Genau, ich habe an der City University of New York und der New School Fotografie studiert und damit einen Traum verwirklicht. Ich hatte schon sehr früh meine Leidenschaft zur Fotografie entdeckt. Nach dem Studium in NYC ging ich nach Berlin. Dort habe ich einen zweiten Abschluss in Kommunikationsdesign und Praktika gemacht und habe danach kurzzeitig in Buenos Aires gelebt. New York geht und ging mir aber nie aus dem Kopf. Ich vermisste die Stadt, meine Freunde und das Leben dort und beschloss, wieder zurückzugehen. Mein Arbeitsvisum zu bekommen war sehr lange und harte Arbeit, aber es klappte und ich fand dann auch eine Assistenz bei meinem jetzigen Mentor Todd Heisler, der als Fotograf für die New York Times arbeitet.


Und wie hast Du Deinen Mann kennengelernt?
Als ich zur gemeinsamen Ausstellungseröffnung meiner damaligen Businesspartenerin und mir nach Berlin fuhr, traf ich Daniel in der Küche unserer gemeinsamen Freundin. Daniel kommt aus dem Allgäu, arbeitete damals in München und wir hatten viele gemeinsame Freunde und Bekannte. Wir sind heute noch verblüfft, dass wir uns nicht schon viel früher über den Weg gelaufen sind!
Waren Kinder schnell Thema bei euch?
Ja. Nachdem wir uns etwa ein Jahr lang kannten, ging nach unserer offiziellen „Pärchenverkündung“ alles sehr schnell. Ich zog innerhalb von vier Wochen von New York nach München in seine damalige WG. Einen Monat später waren wir schon in unserer ersten kleinen, gemeinsamen Wohnung. Und sechs Monate danach schon in einer Familienwohnung, allerdings in Berlin. Ziemlich genau neun Monate später kam unsere Tochter Lou auf die Welt.


Als Lou kam, habt ihr an der Kantstraße gewohnt. Wie war es für Dich, in der Großstadt Mama zu werden?
Auf der einen Seite war es super, weil man die Babyzeit in Cafés verbringen konnte und immer viele Leute getroffen hat. Wir haben sehr viele Freunde, die alle in Charlottenburg wohnen und haben uns dort ein bisschen gefühlt wie in unserer eigenen, kleinen, dörflichen Blase. Aber unsere Wohnung ist so gar nicht geeignet für das Leben mit Baby. 4. OG ohne Fahrstuhl und wir konnten noch nicht einmal den Kinderwagen unten anschließen, weil es keinen richtigen Hausflur gibt. Wenn Daniel nicht da war, konnte ich also das Haus nicht gut verlassen, weil ich nicht das Baby und den Kinderwagen gleichzeitig tragen konnte. Unsere Wohnung geht zur Straße raus und es war dort sehr laut, eigentlich hörten wir jede Nacht Sirenen, was mit einem Säugling natürlich auch nicht ideal ist. Zum gleichen Zeitpunkt zog unter uns eine junge Studenten-WG ein. Also fingen wir an, nach einem Garten oder einer Immobilie auf dem Land zu suchen. Das war noch vor Corona, zum Glück. Jetzt wäre die Suche sicher noch schwerer.
Ich glaube, die Geschichte, wie ihr an euer Haus kamt, war dann aber auch ohne Corona sehr abenteuerlich.
Oooh ja. Einmal war ich nachts mit Lou wach und habe die Anzeige gefunden: Ein Häuschen im Grünen, zwanzig Minuten von der Leipziger Innenstadt, aber auch vom Flughafen entfernt, dennoch inmitten von drei Badeseen. In alten Aufzeichnungen wird das Haus auf das Jahr 1902 datiert, es hat drei Stockwerke und ein Spitzdach, 160 Quadratmeter Wohnfläche, 7000 Quadratmeter Garten. Ich war sofort verliebt und habe der Besitzerin noch in der gleichen Nacht eine Nachricht geschrieben. Was für ein Glück, am nächsten Morgen war die Anzeige nämlich schon gelöscht.
Bei genauerer Betrachtung des Grundrisses hatten uns allerdings einige Leute von einem Kauf abgeraten.


Ihr seid dann trotzdem hingefahren…
Die Besichtigung war an einem Sonntag, und wie das war, kann sich jeder wahrscheinlich gut vorstellen. Wir kamen uns vor wie auf einem Jahrmarkt. Leute auf dem Fahrrad und im Porsche, Großfamilien, Pferdebesitzer und wohlhabende Rentner und wir mittendrin. Jeder kam und interessierte sich für das Haus. Die Eigentümerin war erstaunlicherweise über den Andrang sehr überrascht und die neuen Gebote überschlugen sich in den nächsten Wochen. Nach langem Hin- und Herrechnen mussten wir irgendwann aussteigen und es bei unserem letzten Gebot belassen. Aber es ließ mich nicht los. Nach einer schlaflosen Nacht, viele Wochen nach unserem letzten Preisvorschlag kontaktierte ich die Besitzerin, um mir endlich Gewissheit darüber zu schaffen, und zu erfahren, für welche Unsumme das Haus schließlich verkauft wurde. Und als hätte ich es gefühlt, erzählte sie mir, dass sie am Abend zuvor eine Absage der Käuferin erhalten hatte. Sie hatte unser Angebot nur knapp überboten. So hat es also doch noch geklappt. Der Rest ist Geschichte, aber noch genügend Stoff um ein Buch darüber zu schreiben.

Ihr musstet das Haus aber noch komplett renovieren, das war sicher viel Arbeit.
Ja, bis wir einziehen konnten, dauerte es über ein Jahr. Was nicht heißt, dass wir fertig sind. Auch jetzt noch längst nicht, denn wie alle mit Eigenheim wissen: ein eigenes Haus bedeutet nicht nur einen enormen bürokratischen Aufwand, sondern auch immense Ausgaben für Dinge, von denen man vorher nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Wir haben deshalb versucht, so viel möglich selbst zu übernehmen, obwohl wir beide absolute keine handwerklichen Erfahrungen (und Begabungen) haben. Allein für das Entrümpeln hat Daniel drei Monate gebraucht, er hat alte Möbel mit der Axt zerkleinert, weil die Treppe zu eng war, um sie zu entsorgen, Lack unter Schichten von Tapeten abgeschliffen, und so weiter. Es war ein Wahnsinn. Und wir mussten so schnell wie möglich einziehen, weil die finanzielle Belastung enorm war, wir hatten eine Wohnung in der Nähe gemietet und unsere Wohnung in Berlin untervermietet. 2019 war ein verrücktes Jahr, denn zusätzlich haben wir auch noch geheiratet, was im Nachhinein so toll war, aber eben noch eine zusätzliche Belastung. Ich hatte wirklich Symptome von Burnout. Aber wir haben es geschafft….
Ihr seid im Winter 2019/20 eingezogen. Und dann kam Corona…
Genau. Das war natürlich dann super. Es gab keine bessere Zeit, um auf dem Land zu sein. Wir haben es tatsächlich ziemlich gut gehabt in dieser Zeit. Haben am Haus gebaut und gewerkelt, den Garten gestaltet, gebuddelt, und sobald es wärmer wurde, waren wir jeden Tag am See und gefühlt die ganze Zeit draußen, ohne eine Menschenseele zu sehen. Es war viel Home Office möglich, alles stand still und für Lou haben wir dann sogar eine absolute Traum-Kita gefunden. Wir dachten: wir bleiben einfach für immer hier. Wir sind ja beide auf dem Land aufgewachsen. Als das Arbeitsleben aber irgendwann “so richtig” wieder los ging, wurde uns klar, dass das unrealistisch ist. Mittlerweile pendeln wir doch recht viel nach Berlin, haben unsere alte Wohnung wieder bezogen. Der Traum vom Landleben ging also nicht auf, aber wir lieben es trotzdem hier. Und wir werden das Haus fürs Wochenende und die Ferien auf jeden Fall weiterhin viel nutzen, auch wenn wir, spätestens wenn Lou in die Schule kommt, wieder hauptsächlich in Berlin wohnen wollen.


… und was sagt Lou dazu?
Sie mag Berlin sehr, aber liebt auch den Kindergarten hier. Da sind nur 10 Kinder, es ist altersgemischt, die ErzieherInnen sind super toll, es ist einfach perfekt. Wir haben jetzt mit ihr den Kompromiss, dass sie hier in der Kita bleibt und zum Schulbeginn ziehen wir wieder hauptsächlich nach Berlin. Sie ist auch jetzt nicht so das “Draußen”-Kind, ich denke, es ist okay für sie, viel in der Stadt groß zu werden. Das ist lustig, man wird eben doch nicht automatisch zum Landmenschen, nur weil die Möglichkeit da ist. Ich bin auch keine leidenschaftliche Gärtnerin geworden, dabei hatte ich das fest vor! Und ich liebe die Stadt auch für Kinder, es gibt so viele Möglichkeiten dort. Alles hat eben seine Vor- und Nachteile. Außerdem werden wir ja nach wie vor viel hier sein. Und wir müssen auch erstmal noch eine neue Wohnung in Berlin finden, das ist ja auch nicht so leicht.
Du kommst ja ursprünglich aus der Leipziger Gegend, hast du noch Verwandte dort?
Meine Schwester ist zum Studieren nach Leipzig gezogen, was total schön ist, weil Lou so viel mehr von ihrer Tante hat. Und ja, wir haben sogar noch Uromas und Uropas in Leipzig und viele Verwandte, die uns auch mal unter die Arme greifen können. Das ist toll und hilft auch enorm! Mein Mann war erst ein bisschen skeptisch, wie er sich als Bayer in Sachsen schlagen wird, aber man ist uns überhaupt nicht mit Vorurteilen begegnet. Zu Beginn hatte ich etwas Bedenken, dass manche denken: Oh Gott, jetzt kommen die Stadtmenschen, aber im Gegenteil, alle haben uns herzlich empfangen und wir haben schon Freundschaften geknüpft.


Über dein Projekt „Schwalbenjahre“ wurde sehr viel berichtet und es ist ein total spannender Zugang zum Thema DDR-Geschichte. Kannst Du erzählen, worum genau es dabei geht?
Vorletzten Sommer saß ich gefangen vom Regen im Auto fest und hörte mal wieder ein mit Stereotypen geladenes Interview über die DDR, in der es wieder nur um Trabis, Bananen und Goodbye Lenin ging. Dem wollte ich endlich etwas entgegensetzen und habe dann auf Instagram den Kanal „Schwalbenjahre“ gegründet, auf dem unterschiedlichste Menschen aus der DDR ihre Familienalben öffnen. Das wurde sehr schnell sehr vielfältig und bunt und zeigt nun endlich mehr Facetten, von denen man bis heute noch immer nicht viel wusste. Vor einer Weile habe ich das Buch dazu herausgebracht.
Wir war die erste Zeit als Mutter für dich, hast du trotz Selbstständigkeit Elternzeit genommen?
Die Elternzeit nach dem Mutterschutz hat komplett Daniel genommen. Mir ging es in den ersten Wochen nach dem Notkaiserschnitt sehr schlecht, ich war keine, die nach drei Tagen spazieren gegangen ist. Ich brauchte viel Zeit zum Erholen. Aber nach 8 Wochen habe ich tatsächlich wieder angefangen, Jobs anzunehmen und Daniel und Lou sind einfach wirklich überall mit hingekommen. Das wäre natürlich alles nicht möglich gewesen, wenn er fest angestellt gewesen wäre. Im Nachhinein war es dennoch auch ganz schön anstrengend, vor allem für mich. Denn man hat natürlich Druck als Selbstständige, man will bei Kunden nicht als Mutter, die keine Zeit mehr hat, gesehen werden. Aber gleichzeitig denkt man: mein Kind, ich will das sehen, ich will die Zeit nicht verpassen! Wir haben es aber obwohl es viel war, gut hinbekommen, haben das erste Jahr fast ausschließlich zu dritt verbracht. Und die Bindung zum Papa ist unbeschreiblich. Ich habe Lou nicht gestillt, das war eine bewusste Entscheidung und hat zusätzlich geholfen bei der Gleichberechtigung. Mir war wichtig, dass Daniel sie nicht nur, wenn ich unterwegs war versorgen konnte, sondern zum Beispiel auch in den Nächten vor großen Jobs oder wenn ich in deren Vor-und Nachbereitung steckte. Heute würde ich sagen: Es war anstrengend. Aber ich würde es nochmal genau so machen.


Hast du wegen des Stillens auch Gegenwind bekommen, von der Familie oder FreundInnen?
Meine Familie stand da hinter mir, was auch daran liegen könnte, dass ich ein Kind der 80er bin, da war das ja recht normal. Was man natürlich auch kritisch sehen kann, aber das ist ein anderes Thema. Meine Mutter hatte mich auch nicht gestillt, weil es nicht geklappt hat. Im Freundeskreis wurde es nicht angesprochen, es ist ja am Ende auch etwas sehr Persönliches. Aber wenn man genau hinsieht, merkt man natürlich schon, dass die Leute so ein bisschen entsetzt schauen, wenn man das erzählt. Die Hebammen waren natürlich ebenfalls not amused, aber ich hatte nach dem traumatischen Geburtserlebnis kaum Raum, mich damit zu befassen. Und dann war es einfach so. Für uns war es die richtige Entscheidung, ich habe es noch keine Sekunde bereut!
Sind Daniel und du immer noch so ein gleichberechtigtes Team?
Ja, auf jeden Fall. Gerade ist ja immer einer von uns etwa drei Tage jede Woche in Berlin und der andere übernimmt dann komplett. Lou ist das schon total gewöhnt und auch in der Kita wird mittlerweile nicht mehr mit wichtigen Informationen gewartet, bis ich wieder da bin. Daniel ist hundert Prozent am Start, hat auch den Mental Load immer mit im Blick. Für mich ist es ein absolutes Privileg, mein Leben auf diese Art und Weise mit meinem Mann teilen zu können und meine Tochter aufwachsen zu sehen. Auch vor Corona haben wir schon alles geteilt und sind jeden Schritt zu dritt gegangen. Und wenn es einem von uns dann doch mal zu viel wird, dann läuft man eine Runde um den See oder sucht sich ein ruhiges Plätzchen im Garten.


Was ist die größte Herausforderung am Mama-Sein?
Ich bin eine totale Löwenmutter und wenn Lou mir beispielsweise erzählt, dass ein anderes Kind etwas Gemeines gesagt oder getan hat, dann muss ich mich sehr zurücknehmen, um nicht einzugreifen und sie ihre Konflikte selber lösen zu lassen. Das ist für mich emotionale Schwerstarbeit! Ich kann auch nicht gut abschalten, wenn ich drei Tage auf einem Job bin. Dann sorge ich mich trotzdem darum, ob sie jetzt eine Strumpfhose anhat oder nicht. Die Kontrolle abzugeben fällt mir manchmal etwas schwer.
Und was ist das Schönste?
So vieles. Dass man die Welt durch neue Augen sieht und so viele neue Dinge wiederentdeckt und dazu lernt. Ich könnte mir gut vorstellen, bald noch ein Kind zu bekommen…
Danke, Jessica!

Jessica Barthel mit Lou (4), August 2021.
Fotos: Corinna Keiser
Interview: Sarah Borufka
Hier geht es zu Jessicas Instagram, hier zu Schwalbenjahre, und hier ist der Account von Lemonade Studio zu finden, das gemeinsame Projekt von Daniel und Jessica.