„Seht uns, hört uns, redet mit uns, denkt uns mit“ – zum Neustart von Kaiserinnenreich

Wieviel Ableismus (das bedeutet im weitesten Sinne Behindertenfeindlichkeit) wirklich in uns steckt, merken wir vielleicht erst, wenn wir ein Kind erwarten. Dieses soll bitte bitte "Hauptsache gesund" sein, keinerlei Einschränkungen haben. Alle Untersuchungen, die das möglichst sicherstellen sollen, werden selbstverständlich gemacht. Dabei gibt es natürlich keine "Garantie auf ein gesundes Kind". Überhaupt gar nicht. Warum haben wir eigentlich so eine Angst davor, dass das eigene Kind nicht der Norm entsprechen könnte? Wie ist es letztendlich wirklich, ein Kind mit Behinderung großzuziehen?

All diese Fragen habe ich mir oft gestellt und wenige Antworten gefunden. Bis ich Kaiserinnereich entdeckte. Stundenlang las ich dort, fand bewegende, traurige, auch viele schöne Geschichten und gute und wichtige Gedanken. Sicher spielte Voyeurismus auch eine Rolle dabei, aber ich habe dank dieses Blogs auch unglaublich viel gelernt und hinterfragt. Mareice Kaiser, mit der wir hier schon mal einen wahnsinnig hörenswerten Podcast zum Thema “Pränatest” und allem, was danach kommt, aufgenommen haben, hat den Blog viele Jahre mit Herzblut und Leidenschaft geführt, in den letzten Jahren aber immer weniger dort veröffentlicht. Nun gibt sie das Kaiserinnereich ab – und erweckt es damit auch wieder zum Leben. Aber das sollen sie und ihre drei Mitstreiterinnen am besten selbst erzählen!

Liebe Mareice, Kaiserinnenreich hat damals wahnsinnig viel in mir verändert. Magst du mal kurz erzählen, warum du den Blog begonnen hast und was du damit erlebt hast?

Mareice: Das Kaiserinnenreich habe ich Ostern 2014 gegründet, also ziemlich genau vor sieben Jahren. Wenn ich damals von meiner Tochter mit Behinderung und den krassen Erlebnissen mit ihr erzählte, reagierten Leute oft so: Das kann ich mir ja gar nicht vorstellen! Da habe ich gemerkt: Es gibt so gut wie keine Geschichten von Familien mit Kindern mit Behinderungen im öffentlichen Diskurs. Also habe ich sie selbst aufgeschrieben. Und auch, weil ich damals als Mutter von zwei Kindern, mit und ohne Behinderung, nicht so leicht einen Job fand. Da habe ich mir meinen unbezahlten Job selbst geschaffen. (lacht)

Wie waren die Reaktionen auf den Blog?

Mareice: So, wie du zu Beginn beschrieben hast. Die Resonanz war enorm. Das, was entstand, habe ich “Fernwärme” genannt. Ich habe mich nicht mehr so allein gefühlt und bekam die Rückmeldungen, dass es den Leser*innen ähnlich ging. Ich habe dadurch festgestellt: Was uns passiert, ist nicht privat, es ist strukturell. Und auch darüberhinaus gab es ein großes Echo, der Blog bekam innerhalb kürzester Zeit viele Preise und damit Sichtbarkeit. Am Ende entstand daraus mein Buch “Alles inklusive“.

Was sagst du: Hat sich etwas verändert? Ist unsere Gesellschaft seitdem ein bisschen inklusiver geworden?

Mareice: Als Journalistin, die zum Thema Inklusion arbeitet, muss ich leider sagen, dass ich keine Verbesserungen beobachten kann. Obwohl Deutschland 2007 die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben hat, gibt es bisher nur superwenige Schulen, die Inklusive Bildung anbieten. Noch immer wird die Aussicht auf ein Kind mit Behinderung während der Schwangerschaft als Horrorszenario gesehen. Noch immer werden Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, ausgebeutet. Noch immer sind Frauen mit Behinderung besonders von Gewalt betroffen, jede dritte bis vierte Frau mit Behinderung ist in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierter Gewalt ausgesetzt.

Also nein, ich sehe keine Verbesserungen in Richtung Inklusion. Denn die müsste es strukturell, politisch und institutionalisiert geben. Und da sehe ich weiterhin den Fokus auf Leistung und Leistungsgesellschaft, leider. Auch innerhalb der Corona-Krise werden die Bedürfnisse von Personen der Risikogruppe und ihren Angehörigen übergangen. Erst vor einigen Wochen habe ich von Magdalena und ihrer Familie berichtet, die seit über einem Jahr in absoluter Isolation leben und von der Politik einfach nicht berücksichtigt werden.

Warum gibst du den Blog jetzt ab?

Mareice: Aus dem Alltag mit Behinderung kann ich nicht mehr erzählen, meine Tochter ist im Alter von vier Jahren gestorben. Die Geschichten, die erzählt werden müssen, werden aber weiter erlebt. Deshalb übernehmen jetzt Bárbara, Eszter und Jasmin mit ihren Erzählungen aus dem Alltag und mit ihren klugen Analysen das Kaiserinnenreich. Meinem Buch “Alles inklusive” habe ich ein Zitat der Autorin Nicole von Horst vorangestellt: “Die eigene Geschichte zu erzählen und die Geschichten von anderen zu hören und anzuerkennen, gehört zusammen. Es sind beides radikale Akte, die die Welt verändern. Und sei es nur die Welt eines einzelnen Menschen.” In diesem Sinn hoffe ich, dass der Blog weiterhin den gesellschaftlichen Weg in Richtung inklusive Gesellschaft begleitet. Bárbaras, Eszters und Jasmins Stimmen sollten wir dabei unbedingt hören.

Wollt ihr drei euch mal kurz vorstellen?

Eszter: Ich bin Eszter und lebe zusammen mit meinen drei Kindern und ihrem Vater in einer großen Stadt. Mein erstes Kind habe ich bewusst im Studium bekommen und musste schnell feststellen, dass gute Pläne und Vorsätze alleine nicht reichen. Familienleben mit Behinderungen und oder Krankheiten scheint strukturell und politisch nicht vorgesehen zu sein. Da mein Mann damals schon länger mit seinem Studium fertig war und unser Einkommen alleine verdiente, bin ich Zuhause geblieben, um unsere Kinder zu pflegen und zu versorgen. Ich war schon früher politisch und feministisch aktiv, durch die Geburt meines ersten Kindes fing ich wieder an zu schreiben. Diesmal verstärkt über Mutterschaft und Inklusion.

Bárbara: Ich bin Bárbara, Mutter von drei Kindern, zwei ohne und eines mit Behinderung. Ich komme aus Brasilien und leben seit dreizehn Jahren hier in Deutschland, ich lebe auf dem Land. Nach der Geburt unserer ersten Tochter habe ich angefangen als Doula Schwangere zu begleiten, was ich bis vor Kurzem gemacht habe. Großen Fokus habe ich auf Frauen mit Einwanderungsgeschichten gelegt. Als mein Mann und ich in der Schwangerschaft mit unserer dritten Tochter von ihrer Behinderung erfuhren, sind wir als Paar durch einen tiefen Prozess (zusammen und jede*r für sich) gegangen. Heute nimmt die Pflege unseres dritten Kindes und alles, was damit zusammenhängt, viel Zeit und Energie in Anspruch. Aber wir gestalten unseren Alltag als Familien mit Liebe und Freude, so wie wir es vor ihrer Geburt schon gemacht haben.

Jasmin: Ich bin Jasmin und lebe mit meiner Tochter in einer kleinen Stadt. Ich arbeite in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für eine Antidiskriminierungsberatungsstelle und als Autorin für eine digitale Aufklärungsplattform. Auf meinem Instagram-Account schreibe ich über das Leben als alleinerziehende, behinderte Mutter einer behinderten Tochter; über häusliche Pflege, Antirassismus, Feminismus und über mein Herzensthema Inklusion. Ich schöpfe viel aus meinen eigenen Erfahrungen und versuche dabei immer, den Blick auf das Gesamtgesellschaftliche zu lenken.

Werdet ihr den Fokus auf das Leben mit Behinderung legen – oder auch andere gesellschaftspolitische Themen aufgreifen?

Eszter: Diese Themen lassen sich gar nicht trennen. Das Leben mit Behinderung berührt immer auch jedes andere gesellschaftspolitische Thema. Menschen mit Behinderung sind Teil dieser Gesellschaft, selbst wenn sie an den Rand gedrängt werden. Jede politische Entscheidung, jede gesellschaftliche Entwicklung berührt auch sie. Auf der anderen Seite sagt es viel über eine Gesellschaft aus, wie gut sie es schafft, alle ihre Mitglieder*innen zusammenzubringen und jeder*m ein gutes Leben zu ermöglichen. Die Perspektive von Menschen mit Behinderung zu sehen, heißt nicht nur ihre Perspektive auf die Behinderung, sondern auf das ganze Leben zu sehen.

Bárbara: Da schließe ich mich Eszter an, diese Themen gehören zusammen. Mich bewegen sehr die kollektiven Narrative, die wir als Gesellschaft über Behinderung haben. Woher kommen sie? Was steckt dahinter? Welches Bild hat jemand – wie ich damals vor der Geburt meiner Tochter – von Menschen mit Behinderung? Ich, die 33 Jahre gebraucht hat, um zu merken, dass sie keine Beziehung mit einer Person mit Behinderung in ihrem ganzen Leben gehabt hat? So habe ich gelebt und so leben viele Menschen. Das ist alles miteinander verknüpft.

Jasmin: Ich bin selbst intersektional marginalisiert und kann schon allein deshalb die Themen nicht voneinander trennen.

Ich mochte die „Und wie machst du das..?“ Serie sehr gerne. Geht es damit weiter?

Mareice: Ich hoffe, ja! Was meint ihr? Ihr seid die Kaiserinnenreich-Chefinnen. (lacht)

Bárbara: Ja, die Serie möchten wir gern fortführen. Auch, um viele Stimmen hörbar zu machen. Mütter, die Lust auf Interviews haben, können sich gerne bei uns melden.

Warum brauchen wir dringend mehr Aufmerksamkeit für das, was Eltern von Kindern mit Behinderung täglich leisten?

Jasmin: Wir sind unsichtbar, unsere Herausfordeurngen werden unsichtbar gemacht. Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen werden generell nie mitgedacht. Es ist einfach Zeit für eine inklusive Gesellschaft.

Eszter: Inklusion kann nur funktionieren, wenn man alle mitdenkt. Um alle mitdenken zu können, muss man sehen, wie sie leben, was sie bewegt, was ihre Herausforderungen sind, was ihre Wünsche und Hoffnungen sind. Nur durch diese Sichtbarkeit kommen wir in Berührung, durch Berührungen tauschen wir uns aus, haben teil. Nur so kann Inklusion gelingen.

Bárbara: Weil Ableismus – also die Diskriminierung die Menschen auf Grund ihrer Behinderung erfahren – ein strukturelles Phänomen ist. Das läst sich an der Sprache erkennen, an den wenigen Zahlen von Kindern mit Behinderung, die einer regulären Schule sind, an Spielplätzen, die gebaut werden, ohne an unsere Kinder zu denken. Wir wollen dazu gehören – mit unseren Kindern.

Sicher keine leichte Frage, aber wenn ihr euch je eine Sache vom Staat und eine Sache von „der Gesellschaft“ – oder eurem Umfeld wünschen könntet, die euch das Leben erleichtern würde. Was wäre das?

Jasmin: Finanzielle Unterstützung und Altersvorsorge, Absicherung und einen besser aufgestellten professionellen Pflegeschlüssel. Ich wünsche mir ausgebildetes Betreuungspersonal an Schulen, die fortan nicht mehr getrennt werden, ich wünsche mir inklusive Freizeitangebote für Kinder und generell bessere Betreuungsangebote, die es uns ermöglichen, zu arbeiten oder auch nur Zeit für uns zu haben. Von der Gesellschaft wünsche ich mir, nicht als Heldin oder bemitleidenswert angesehen zu werden, sondern als selbstverständlicher Bestandteil selbiger.

Bárbara: Ladet uns ein, reist mit uns, bruncht bei uns, tanzt mit uns. Lasst uns Teil eures Leben sein. Mein Kind will spielen, braucht einen Kita-Platz, braucht Liebe und sichere Bindung – wie jedes Kind. Wir reden hier über reale Menschen, über Geschichten, über Zoes, über Finns, über Aylins. Nicht über eine Kategorie von Menschen.

Eszter: Seht uns, hört uns, redet mit uns, denkt uns mit.

Danke, ihr Lieben!!

Illustration: Karin Lubenau
Foto von Mareice: Leah Kunz

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