“Mein schmerzhaft schönes Trotzdem” – Leben und Mutterschaft mit Depression

Als das Rezensionsexemplar von „Mein schmerzhaft schönes Trotzdem“ hier mit der Post ins Büro hereinflatterte, reichte mir Marie direkt das Buch. „Das liest du lieber, sieht traurig aus“. Sie hatte so viel um die Ohren, „schwere“ Kost war zu diesem Zeitpunkt nichts für sie. Ich nahm es aber gerne mit nach Hause. Weil ich den Schreibstil und die Herangehensweise von Barbara Vorsamer aus der Süddeutschen kenne und sehr mag. Und weil ich bei mir selbst und auch in meinem Umfeld bisher eher wenig mit dem Themenblock „Depressionen“ konfrontiert wurde (nicht „gar nicht“, das ist ja klar, aber es ist etwas, womit ich mich bisher eher oberflächlich befasst hatte) und neugierig auf das Buch war.

Barbara hat bereits 2018 in einem rührenden Brief an ihre Tochter in der SZ sehr offen über ihre Depressionen und auch über das Mutter-sein mit ebendiesen geschrieben. Und obwohl ihre Geschichte tatsächlich auch traurig ist (sie leidet auch noch an Migräne…), ist dieses Buch es nicht. Es ist sachlich und sogar unterhaltsam, informativ und wahnsinnig sympathisch. Weil Barbara sich sehr auf das “Trotzdem” konzentriert. Und niemals zuvor hat mir ein Text oder ein Buch den ganzen Themenkomplex „psychische Krankheiten“ so wunderbar nahe gebracht, wie dieses Buch. Ich habe es in einem Rutsch durchgelesen und kann es euch wirklich empfehlen, es ist eine große Bereicherung.
Deshalb und auch weil Barbara eine große Stimme für Eltern in Deutschland ist und das ja alles zusammenhängt, habe ich mich mit ihr unterhalten.

Liebe Barbara, so ein gutes Buch! Kannst du kurz erzählen, wann du das erste Mal den Verdacht hattest, dass du unter Depressionen leidest?

Zum ersten Mal diagnostiziert bekam ich Depressionen 2005, Therapie und Medikamente kamen 2006 dazu. Damals war ich aber eigentlich in Behandlung wegen meiner chronischen Schmerzen: Kopfschmerzen, Migräne, Rückenschmerzen.
Im Rückblick würde ich sagen, dass die Depressionen mich schon viel länger begleiten. Es gibt Episoden aus meiner Kindheit und Jugend, da frage ich mich im Nachhinein: War das wirklich normal? Ich muss natürlich spekulieren, denn Selbst-Diagnose ist bei psychischen Krankheiten wirklich nicht zu empfehlen. Aber als ich beispielsweise 17 Jahre alt war, ging es mir eine längere Zeit sehr schlecht. Ich habe damals Gründe für diesen Zustand gefunden, wie man das ja immer macht. Ich war unglücklich verliebt, eine Hausarbeit belastete mich, ich war im Urlaub auf Korsika und litt unter Heimweh.
Heute denke ich mir: Das war eine depressive Phase. Weil ich vorher nie Heimweh hatte, aber auch, weil ich die Gefühle mittlerweile besser deuten kann. Das sage ich jetzt mit aller gebotener Vorsicht. Aber ich denke, dass es oft so ist, dass man ein sehr trauriges Gefühl hat, über einen längeren Zeitraum. Man weiß nicht, dass das eine Krankheit ist und rationalisiert es sich zurecht, sucht nach Gründen…

Als deine Tochter geboren wurde, bist du auch wieder in eine schwere, depressive Phase gerutscht. Und ich erinnere mich, dass du damals ebenfalls nach „Gründen“ gesucht hast.

Und ich habe sie auch gefunden. Die Wohnung in der wir damals lebten, erschien mir zum Beispiel komplett falsch für unser Leben mit Baby. Ich hatte auch das Gefühl, nicht so „leiden zu dürfen“ – schließlich hatte ich ja „alles“. Einen Mann, ein Wunschkind, einen Job, der mich erfüllt. Ich dachte: Es ist doch alles gut, warum fühle ich mich so schlecht?
So ist das Leben. Zu jedem Zeitpunkt würde man etwas finden, was das schlimme Gefühl erklärt. Irgendwas ist ja immer.
Bei mir kamen damals mehrere Dinge zusammen. Ich hatte ja bereits eine Depression, und die ist bei mir recht unabhängig davon, was sonst noch im Leben, also „im Außen“ los ist. Aber wenn es „im Außen“ schwierig ist, dann begünstigt das die Depression natürlich.
Außerdem habe ich mich durchaus schwer getan, in meine Mutterrolle hineinzufinden. Ich finde, in der heutigen Gesellschaft haben wir uns an eine Gleichung gewöhnt, die lautet: Große Anstrengung ist gleich gutes Ergebnis. Das gilt im Studium, in der Ausbildung, im Beruf. Wenn man aber mit dieser Haltung in die Elternschaft einsteigt, dann funktioniert es nicht. Und ich bin genau so herangegangen: „Ich mach einfach alles richtig, und dann wird auch alles gut“. Aber in einer Familie geht es halt nicht um Leistung, da geht’s um Beziehung! In der Mutterrolle braucht man andere Kompetenzen, als überall, wo man vorher „erfolgreich“ war. Das hat mich völlig verunsichert.
In dem tollen Buch „Small Animals – Parenthood in the Age of Fear“ habe ich übrigens gelesen, dass es vielen Müttern so geht, wie mir damals. Gerade den gebildeten, leistungsorientierten, ehrgeizigen. Dass man erkennen muss: Mit einem Kind kann man alles richtig machen – und es kann trotzdem alles schief gehen, irre belastend sein und überhaupt gar nichts funktionieren.

Viele Frauen sind in dieser Lebensphase besonders fragil, oder?

Ja, ich glaube schon. Zum einen ganz klar durch die körperlichen und hormonellen Veränderungen. Und dann ist ein Baby eben auch eine emotionale Herausforderung.
Für mich war das Mutter-werden im Nachhinein überhaupt kein Spaziergang. Es ist wahrscheinlich immer eine Identitätskrise, man muss erstmal in die neue Rolle reinwachsen und auch feststellen: Was war ich? Was bin ich? Wer will ich sein? Bei manchen mag dieser Prozess total gut und sogar heilsam sein – bei anderen nicht.
Ich habe mit alldem ganz schön gekämpft und dazu kam eben meine Depression. Außerdem hatte ich damals Ärzt*innen, die nicht wussten, was sie taten. Ich muss das heute wirklich so hart sagen. Meine Gynäkologin hatte mir geraten, in der Schwangerschaft alle Medikamente abzusetzen. Und dann hat der Psychiater mir gesagt, ich müsste abstillen, um wieder Medikamente zu nehmen. Das stimmt aber alles nicht. Es gibt Medikamente, die man schwanger und stillend nehmen kann. Das ist nicht unproblematisch, aber es ist immer eine Sache des Abwägens. Denn eine Mutter mit Depression tut dem Kind ja auch nicht gut. Mit kompetentem Personal kann man hier einen individuell richtigen Weg finden. Aber wenn ein Arzt sagt: „Medikamente nehmen geht auf keinen Fall“, dann ist das schon mal falsch. Das weiß ich heute.

Du bist jetzt seit über zehn Jahren Mutter. Wie geht „Elternsein“ mit Depression?

Auf die Frage „wie bekommst du das hin“ möchte ich immer antworten: ich bekomme das nicht hin. Weil: Niemand bekommt das hin. Ob krank oder gesund. Wir dilletieren und improvisieren uns hier von Tag zu Tag durch, genau wie die meisten anderen Familien, die ich kenne.
Damit und überhaupt mit den gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter hadere ich immer noch sehr. Die passen einfach nicht zueinander. Man kann sie nicht erfüllen. Man soll genauso viel Geld verdienen wie der Mann, liebevoll sein, selbstständig, gut aussehend – wir wissen alle, dass das nicht geht. Überhaupt: arbeiten, erwirtschaften – und nebenbei großziehen. Das ist einfach schwierig.
Für mich ist es auch so, dass ich mehr oder weniger seit 15 Jahren Medikamente nehme. Die richtig schlechten Phasen hatte ich immer, wenn ich diese abgesetzt hatte. Das ist aber MEIN Weg. Man sagt ja, dass – je nach Quelle – jeder vierte, oder sogar jeder dritte Mensch im Leben irgendwann eine depressive Phase durchmacht. Und natürlich werden nicht alle davon auf Dauer Psychopharmaka nehmen. Manche haben das nur einmal im Leben – und das war es dann. Andere haben es über Jahrzehnte immer wieder, es begleitet sie. Bei anderen Krankheiten erkennen wir das ja auch an, dass jede Krankheit anders verläuft, jeder Mensch anders reagiert. Bei Depressionen haben wir noch nicht ganz verstanden, dass jede Depression anders ist. In meinem Fall ist sie so, dass ich nur mit Medikamenten stabil bin.
Ich habe aber das Glück, ein sehr gutes, hilfsbereites und liebevolles Netzwerk aus Familie und Freunden zu haben. Und vor allem einen Mann, der seinen Teil übernimmt und mich in jeder Hinsicht maximal unterstützt – er sammelt seit 15 Jahren alle Brocken auf, die ich liegen lasse. So wurschteln wir uns eben so durch.

Du hast lange versucht, eine Erklärung für deine Depression zu finden. Unter anderem hast du viel in deiner Kindheit „gesucht“ – ohne Erfolg. Sind wir viel zu fixiert darauf, dass es für psychische Erkrankungen eine Erklärung in der Kindheit geben muss?

Das ist zumindest meine Erfahrung. Ich habe natürlich auch viel Psychoanalyse gemacht, da ist es ja so bisschen die Grund-Annahme, dass etwas in der Kindheit passiert sein muss. Und es ist ja auch nicht völlig falsch. Auch bei mir sind viele Glaubenssätze verankert, die vielleicht nicht unbedingt in der psychischen Gesundheit förderlich sind, sag ich mal. Und die habe ich von meinen Eltern gelernt. Die haben mir das aber nicht beigebracht, um mir das Leben schwer zu machen, sondern weil sie glaubten, dass das so richtig ist. Ein Beispiel ist das Zusammenspiel von Leistung und Liebe, mit dem ich aufgewachsen bin, und von dem ich nicht glaube, dass meine Eltern ihn mir ernsthaft vermitteln wollten. Aber bei mir ist eben leider angekommen, dass ich nur etwas wert bin, wenn ich etwas leiste. Und das hat man in den 80ern eben so gemacht, fast alle meine Freunde und Freundinnen sind so groß geworden. Man meinte, das sei eine gute Idee, so zu erziehen.
Dennoch: Ich hatte eine schöne Kindheit, ich hatte immer eine gute Beziehung zu meinen Eltern. Und ich habe in meiner Therapielaufbahn sehr viele Menschen kennen gelernt, die wirklich traumatisiert sind; die Missbrauch, Gewalt, Flucht, Armut, Misshandlung und viele schlimme Dinge erfahren haben. Weswegen ich mich oft fehl am Platz gefühlt habe, in der Therapie und in Kliniken, weil ich mich gefragt habe, ob ich wirklich das Recht habe, so zu leiden, obwohl mir niemand etwas angetan hat.

Hast du einfach irgendwann akzeptiert, keine Erklärung zu finden?

So ungefähr. Ich habe das halt. Es ist immer multifaktoriell. Und auch bei mir wohl ein Zusammenspiel aus Charakter, genetischer Veranlagung (mein Vater hatte auch mit Depressionen zu kämpfen), Erlebnissen und Erziehung.
Ich finde es aber trotzdem richtig, sich kritisch mit der eigenen Gedankens- und Gefühltswelt auseinanderzusetzen. Man muss ja nicht immer „ einen Schuldigen“ finden, aber sich zu fragen: Wie denke ich? Wer hat mir das so beigebracht? Welche sind meine Glaubenssätze? Meine Werte und Erwartungen? Wie gehe ich an Beziehungen ran? Da mal hinzuschauen ist meiner Meinung nach immer sinnvoll.

Es klingt gar so, als hättest du die Diagnose verzögern wollen, um deine Eltern nicht zu verletzen?

Ja, ich glaube diese Beobachtung stimmt so. Es war tatsächlich schwierig, da mit meinen Eltern einen guten Weg zu finden. Wir sind mehrere Jahre viele Runden gelaufen, um einen Umgang mit der Krankheit zu finden. Ich weiß nicht, ob die Erfahrungen meines Vaters es einfacher oder sogar schwerer gemacht haben. Denn wie gesagt: Jede Depression ist anders. Ich hatte es auf eine Art nicht so schlimm wie mein Vater, aber eben schon auch schlimm. Es ist einfach individuell – manche können kaum mehr sprechen, gar nichts mehr machen. Ich habe zum Beispiel wahnsinnig viel geweint in meinen ersten Phasen – mein Vater hat nie geweint. An sowas kann man aber nicht erkennen, wie sehr jemand leidet, das kann man sowieso einfach gar nicht von außen erkennen.
Es ist wirklich schwierig, Psychoanalyse zu machen, ohne in die Richtung abzubiegen: “Meine Eltern sind schuld“. Und ich denke, für meine Eltern hat sich das dann auch eine Zeit lang so angefühlt.
Heute kenne ich sogar beide Richtungen, denn meine Tochter hat auch schon Psychotherapie gemacht und meine Schuldgefühle sind natürlich immens.
Und mit Sicherheit habe ich mit dem, was ich getan und gesagt habe, bei ihr auch etwas ausgelöst. Aber hätte ich eine Alternative gehabt? Hätte ich es besser machen können? Nur weil man Verantwortungen aufdröselt, ist das ja nicht sofort eine Schuldzuweisung. Eltern können zwar auf jeden Fall auch „Täter“ sein, wie gesagt, es gibt Missbrauch und Gewalt und das traumatisiert Kinder. Aber man kann seine Kinder auch verkorksen, wenn man alles richtig machen möchte – es aber einfach nicht schafft. Oder weil man es nicht besser weiß.

Auch Medikamente nehmen war in deiner Familie immer eher „verpönt“, ich glaube, das kennen viele auch von sich…

Und es ist ja auch gut, sich nicht immer mit Pillen vollzuballern, um weiter zu funktionieren. Alle Medikamente haben Nebenwirkungen, und dass man besonders bei Kindern da eher vorsichtig und zurückhaltend ist, bevor man etwas gibt, das finde ich nach wie vor vollkommen richtig. Gleichzeitig gibt es aber manche Krankheiten und Symptome, die ohne Medikamente nicht so richtig weggehen. Wir sollten uns freuen, was wir da heutzutage alles zur Verfügung haben und da einfach immer diese Abwägung für uns treffen, ob wir jetzt was nehmen oder ob wir jetzt lieber nichts nehmen.
Ich habe mich innerlich lange gesträubt, regelmäßig Medikamente zu nehmen. Aber für mich ist es einfach nicht gut möglich, ohne. Das muss man dann auch akzeptieren. Lieber dauerhaft Medikamente, als dauerhaft krank.

Zudem leidest du auch noch unter schlimmer Migräne. Kommt das oft gemeinsam mit Depressionen vor?

Die beiden Diagnosen sind sicher verbunden miteinander. Ob sie gleichzeitig kommen, ist schwer zu sagen, weil eine Migräne einige Stunden bis einige Tage dauert, und eine depressive Phase einige Monate bis ein, zwei Jahre. Deswegen habe ich natürlich Migräne, während ich depressiv bin. Ich habe aber auch Migräne, wenn ich gerade nicht in einer depressiven Phase bin. Und es gibt auch keinen klaren Zusammenhang à la “wenn ich depressiv bin, habe ich mehr Migräne” oder “wenn ich depressiv bin, habe ich weniger Migräne”. So einfach ist es nicht, zumal auch die Medikation gegen die Depressionen einen Einfluss auf die Migränehäufigkeit hat. Während meiner schlimmsten depressiven Phase hab ich zwei Monate lang starke Beruhigungsmittel genommen. Da hatte ich dann fast gar keine Migräne mehr. Aber dieses Präparat ist stark suchtgefährdend, das darf man nicht dauerhaft einnehmen.
Aber die Migräne ist natürlich ein großer Einschnitt in unseren Alltag. Es gibt Tage, da wache ich auf und es geht nichts mehr. Dann übernimmt mein Mann. Immer. Es gab auch schon Migräne-Attacken, wo ich es nicht mehr nach hause geschafft habe und er mich irgendwo einsammeln musste.
Es gibt aber auch hier verschiedene Levels – manchmal liege ich zwar im Bett, aber bekomme den Alltag noch hin. Die Kinder schauen dann Paw Patrol, ich mache ihnen irgendeine Packung zum Essen auf. Da bekomme ich dann keinen „Mum of the Year“ Award, aber es funktioniert noch alles irgendwie. An anderen Tagen kann ich nicht mal das beitragen.

Du gehst so klar und rational mit deinen Leiden um, das war sicher nicht immer so, oder?

Das sagen immer alle so, aber ich glaube das ist ein Missverständnis. Ich bin Journalistin, ich kann über Sachen gut schreiben, ich kann sie klar und rational und gut verständlich und leicht lesbar und manche sagen auch, unterhaltsam aufschreiben. Das bedeutet aber absolut nicht, dass in mir drin irgendwas klar rational oder gar verständlich und unterhaltsam ist. Das ist nicht das Gleiche. Vieles, was in dem Buch steht, kommt aus meinem Innenleben. Mein Innenleben ist aber trotzdem lange nicht so sortiert, wie das Buch.

Was würdest du dir in Zukunft wünschen für Menschen, die ebenfalls unter Depressionen leiden?

Dass sie nie die Hoffnung aufgeben. Selbst wenn man nichts behandelt, geht eine depressive Phase wieder vorbei. Sie kommt auch oft wieder…
Aber Gefühle sind nie permanent, es gibt immer ein „Morgen“. Das kennen ja auch gesunde Menschen.
Mit einer Behandlung vergeht eine Depression aber normalerweise schneller. Dafür bräuchte es mehr Kapazitäten, mehr Unterstützung, mehr Therapieplätze, das ist ganz klar. Ich glaube aber auch, dass vielen Menschen stabile Beziehungen fehlen. Nichts ist so eine gute Prophylaxe für eine Depression, wie ein stabiles Netz an guten Beziehungen – auch wenn das natürlich kein Garant ist, nicht an Depressionen zu erkranken.
Insbesondere für Eltern wünsche ich mir, dass sie ein Umfeld haben, das sie unterstützt, wertschätzt, und akzeptiert, wie sie sind.

Danke, Barbara!

 

Foto: Astrid Eckert