“Alkoholsucht zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten”

Drogen, Alkoholsucht, Gewalt: Viele denken, das seien reine "Unterschichtsprobleme". Doch das ist weit gefehlt. Was macht die Sucht der Eltern mit deren Kindern? Und was können wir tun, wenn wir zum Beispiel kritischen Alkoholkonsum beobachten? Dazu haben wir Corinna Oswald ein paar Fragen gestellt. Sie ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit nahezu 15 Jahren in einer Suchtberatungsstelle der Caritas im Saarland. Dort hilft sie Kindern aus Familien, in denen Alkohol- oder Drogensucht den Alltag bestimmen. Zusätzlich ist sie auch noch im Vorstand des Vereins Nacoa e.V., der sich ebenfalls darauf fokussiert, Kindern aus suchtbelasteten Familien zu helfen, sie zu stärken und ihre Interessen zu vertreten.

Welche Familien sind von Alkoholsucht besonders betroffen?

“Das Problem zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten. Es gibt die Hausfrau, die ihre schwer kranke Schwiegermutter pflegt und über den Tag verteilt Sekt trinkt, um sich zu entlasten, den Lehrer, der heimlich zwischen den Unterrichtsstunden Flachmänner trinkt, die Geschäftsfrau, die sich mit Rotwein belohnt, den Afghanistan-Rückkehrer, der seine posttraumatische Belastungsstörung mit Alkohol selber “therapiert” und den Lageristen, der täglich mehrere Flaschen Bier trinkt und ohne nicht mehr kann – um stellvertretend einige Protagonist*innen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu nennen. Die Zahlen haben sich auch zwischen den Geschlechtern angenähert. Was man in Bezug auf Familien eindeutig sagen kann, ist, dass insbesondere solche Familien betroffen sind, in denen bereits Vater oder/und Mutter aus einer alkoholkranken Familie stammen – das heißt, dass das Problem, die Sucht, tradiert wird.”

Wie verbreitet ist denn Alkoholsucht?

“Bei den Männern sind 4,5 Prozent der Bevölkerung als alkoholabhängig erfasst, bei den Frauen 1,7 Prozent. Dazu kommen missbräuchlich konsumierende Personen, das sind weitere 4 Prozent bei den Männern und 1,5 Prozent bei den Frauen. Darüber hinaus gibt es viele Menschen, die Alkohol in riskanten Mengen konsumieren, rund 13 Prozent der Frauen und 19 Prozent der Männer. Riskant bedeutet dabei, dass eine tägliche Menge Reinalkohol, die das Risiko für gesundheitliche Probleme erhöht, überschritten wird: Bei gesunden erwachsenen Frauen also mehr als ein Standardglas Alkohol am Tag, zum Beispiel mehr als 0,3 Liter Bier oder 0,1 Liter Wein, bei den Männern gilt die doppelte Menge. Übrigens trinken Frauen mit hohem sozioökonomischem Status anteilig häufiger in riskantem Maß als Frauen aus mittleren oder niedrigen Statusgruppen.“

Wie sieht es denn in Familien aus. Oft beginnt die Problematik ja lange vor der Geburt des ersten Kindes. Wie fatal Alkohol in der Schwangerschaft sein kann, wissen alle – welche Folgen hat dieser Konsum denn für die Kinder?

“Die Störungen umfassen ein ganzes Spektrum, im Englischen heißen sie deswegen auch Fetal Alcohol Spectrum Disorder. Das Fetale Alkohol Syndrom umfasst drei große Bereiche: Wachstumsverzögerungen, typische Gesichtsmerkmale und neurologische Beeinträchtigungen. Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft regelmäßig und /oder übermäßig Alkohol konsumiert haben, kommen oft zu klein und zu leicht zur Welt, manche haben eine Mikrozephalie, einen zu kleinen Kopf. Es gibt bei stärker betroffenen Kindern auch typische Gesichtsmerkmale wie kurze Lidspalten, die Augen wirken dann oft puppenhaft, und eine sehr schmale Oberlippe ist ebenfalls typisch. Viele leiden unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, sind entwicklungsverzögert, haben große Probleme mit Zeitmanagement, können auch als Erwachsene nicht mit Geld umgehen, sind in der Intelligenz gemildert und in ihren Exekutivfunktionen – das heißt, sie haben Schwierigkeiten, Dinge zu planen und vorauszusehen. Oft sind sie auch schlecht darin, Gefahren abzuschätzen, sind auffallend naiv, leichtgläubig. Viele schaffen es nicht, die Schule oder eine Ausbildung zu beenden. Sie sind also für ihr Leben gezeichnet, wenn sie zur Welt kommen.”

Wann wird das fetale Alkoholsyndrom diagnostiziert, bzw. eben nicht – und welche Auswirkungen hat das auf die betroffenen Kinder, wenn es erst spät oder gar nicht erkannt wird?

“Das fetale Alkoholsyndrom ist in Deutschland unterdiagnostiziert. Zunehmend bilden sich allerdings – neben den großen, schon länger existierenden Zentren wie der Charité in Berlin – Ambulanzen und Zentren aus, die sich auf die Diagnose spezialisiert haben, oft sind es sozialpädiatrische Kliniken. Einen guten Überblick bietet die Homepage FASD Deutschland. Es ist auch insofern sehr wichtig, das Störungsbild bzw. die Behinderung durch ein FASD zu diagnostizieren, weil Kinder und Jugendliche, bei denen das nicht erkannt wird, oft unter sogenannten Sekundärschäden wie Depressionen, Angststörungen, Schulschwänzen, später dann Delinquenz, sexuellem Missbrauch, und auch der Ausbildung einer eigenen Alkoholabhängigkeit leiden. Auch für die Pflege- oder Adoptivfamilien, in denen die Kinder oft aufwachsen, ist eine Diagnose hilfreich: nicht SIE haben versagt in der Erziehung des Kindes, sondern es handelt sich um eine Behinderung.“

Welche Folgen hat der Alkoholkonsum der Eltern für Kinder?

“Der Alkoholkonsum der Eltern hat in unterschiedlichen Lebensaltern auch unterschiedliche Auswirkungen auf die Kinder. Im Säuglingsalter z.B. können die Eltern ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommen, die Bedürfnisse ihres Babys nicht erkennen, sie sind oft nicht in der Lage, das Kind zu versorgen, das völlig auf sie angewiesen ist. Das hat auch schwere Auswirkungen auf die Bindung zwischen Eltern und Kind. Generell kann man sagen, dass Kinder aus suchtbelasteten Familien später ein sehr hohes Risiko haben, selber suchtkrank zu werden, sie sind auch anfälliger für weitere psychische Krankheiten wie Depressionen und Angststörungen und neigen eher dazu, sich suchtkranke Partner zu suchen.”

Und wie erlebst Du diese Kinder in der Beratung?

“Die meisten dürfen selbst kein Kind sein und werden von den Eltern in ihren kindlichen Bedürfnissen auch nicht gesehen. Sie drehen sich um die Eltern, wo es doch umgekehrt sein sollte, und kümmern sich um deren Wohl. Grob zusammengefasst kann man sagen, dass es zwei Richtungen gibt, in die sich Kinder aus Familien, die von der Alkoholsucht der Eltern geprägt sind, entwickeln. Zum einen Kinder, die sehr angepasst sind, viel Verantwortung übernehmen, die jüngeren Geschwister versorgen, den Alkohol wegkippen – das, was man Parentifizierung (von englisch parents = Eltern) nennt. Zum anderen gibt es die, die auf die häusliche Situation mit hochproblematischen Verhalten reagieren, die aggressiv werden, Schulversager, selbst Drogen nehmen, kriminell werden und so weiter. Deshalb ist es enorm wichtig, dass es präventive Angebote für die betroffenen Kinder und Jugendliche gibt. Eine tragende Beziehung zu einem Erwachsenen außerhalb des Elternhauses, der liebevoll, verlässlich und emotional präsent ist, kann ihnen helfen, sich trotz aller Widrigkeiten zu einer starken Persönlichkeit zu entwickeln.”

Eltern, die alkoholabhängig sind – das ist immer noch ein riesiges Tabu.

“Ja, und das ist ein Riesenproblem, denn das Bewusstsein dafür, dass Alkoholsucht eine Krankheit ist, ist bei vielen immer noch nicht angekommen. Alkoholkranke Menschen schämen sich infolgedessen und fühlen sich schuldig, und solange sie sich aufgrund von Schamgefühlen keine Hilfe holen, ist es auch sehr schwer, den Kindern zu helfen. Solche, die ein Problembewusstsein haben, sind eher gewillt, sich helfen zu lassen, und davon profitieren auch die Kinder. Aber dazu gehört eben auch, dass das Thema enttabuisiert wird.”

Gibt es denn aus deiner Praxis Erfolgsgeschichten?

“Ja, auf jeden Fall. Ein Mädchen, dessen Vater schwer alkoholkrank war, kam mit 15 Jahren zu uns in die Beratung. Die Tochter war ein klassisches Beispiel für Parentifizierung: Sie hat viel im Haushalt gemacht, sich auch um die zeitweilig depressive Mutter gekümmert, dazu sogar finanzielle Dinge für die Eltern geregelt, wie zum Beispiel die Haushaltskasse überprüft, Anträge gestellt etc. Sie hat ein paarmal versucht, den Absprung zu schaffen, in mehreren Anläufen eine Wohngruppe gesucht und dann wiederholt im letzten Moment einen Rückzieher gemacht, weil sie Angst hatte, ihre Eltern „im Stich“ zu lassen. Ihr Vater ging immer wieder auf Entzugskur, aber kaum war er zurück, ging das Ganze von vorne los. Zuletzt entschuldigte er sich nach einer dieser Kuren drei Stunden lang bei ihr, nur, um sie direkt im Anschluss zu fragen, ob sie ihm 20 Euro leihen könne. Vor ein paar Monaten ist der Vater schließlich an den Folgen seiner Sucht verstorben, und zur selben Zeit hatte dieses Mädchen, das unglaublich gut und gerne fotografiert, einen Praktikumsplatz bei einer Fotografin gefunden, es also geschafft, ihr eigenes Leben zu beginnen. Diesen Prozess habe ich über vier Jahre begleitet und es war unglaublich schön, zu sehen, wie sie sich entwickelt hat.
Ein anderer Junge war fast zehn Jahre bei uns in der Beratung – sein Vater war heroinsüchtig, seine Mutter hat alle möglichen Drogen genommen, und er wurde im Haushalt seiner Großmutter väterlicherseits großgezogen. Die Großmutter allerdings hat dem Vater, also ihrem Sohn, immer wieder Geld für seinen Konsum zugesteckt. Man spricht von co-abhängigen Verhaltensweisen. Der Vater selbst beklaute den Sohn. Die Familie war schon lange beim Jugendamt bekannt, und als die Großmutter irgendwann ebenfalls anfing, den Jungen zu beklauen, kam er im Alter von zwölf Jahren in eine Jugendwohngruppe. Schon zuvor hatten wir angeregt, den Sohn über die Suchterkrankung seines Vaters aufzuklären, weil der sich ja gar nicht erklären konnte, was mit dem Papa los war: Warum der Papa nur vor dem Fernseher hing, nicht aufhörte zu rauchen, obwohl er es versprochen hatte, warum er ins Gefängnis musste. Kinder beziehen elterliches, nicht nachvollziehbares Verhalten auf sich und fühlen sich schuldig. Der Junge wurde dann in kindgerechter Manier über die Abhängigkeit des Vaters aufgeklärt und war regelmäßig in unseren Gruppensitzungen, zusätzlich hatte ich noch Einzelkontakt zu ihm, weil für ihn das Gruppenangebot einfach nicht reichte. Als er älter wurde, stand es immer wieder auf der Kippe, er konsumierte selbst Cannabis, Alkohol und chemische Drogen wie Ecstasy, aber mittlerweile macht er sein Fachabitur, möchte etwas aus seinem Leben machen und nicht so enden wie sein Vater.”

Was kann man tun, wenn man im Bekanntenkreis mitbekommt, dass Eltern problematisches Verhalten an den Tag legen?

“Die Eltern darauf ansprechen – aber dabei kommt es natürlich darauf an, wie man das macht. Es ist sehr wichtig, das problematische Verhalten objektiv und sachlich zu thematisieren und dabei auf Vorwürfe oder Schuldzuweisungen zu verzichten. Oft ist es hilfreich, das Wohl des Kindes in den Vordergrund zu stellen, denn das ist ja der gemeinsame Nenner – auch suchtkranke Eltern wollen, dass sich ihr Kind gut entwickelt.”

Und wie reagiere ich richtig, wenn ich in der Öffentlichkeit eine Situation beobachte, die mir Bauchschmerzen bereitet – zum Beispiel, dass ein kleines Kind täglich mit seinen offensichtlich alkoholisierten Eltern in einer Gruppe mit anderen Erwachsenen vor einem Supermarkt steht?

“Ich glaube nicht, dass es da ein Patentrezept gibt. Natürlich kann man die Eltern ansprechen. Für das Kind kann das ein wichtiges Signal sein, wenn es merkt, dass andere Menschen es im Blick haben. Aber die Möglichkeiten, zu handeln, sind sehr begrenzt, solange man keine akute Kindeswohlgefährdung beobachtet. In solchen Fällen kann man die Polizei rufen.”

Dankeschön!

 

Zum Foto: Das Bild zeigt die Verhaftung eines alkoholisierten Vaters und ist in Corinnas Beratungsstelle entstanden