Alexandra und ihr Sternenkind – Freude, Chorionzottenbiopsie, Trauer

Man sagt ja, dass die meisten Babies, die sich vorzeitig verabschieden, "etwas haben". Was, das erfahren die meisten Eltern nie - und es ist auch ein schwacher Trost. Bei Alexandra war es anders, ihre Schwangerschaft endete nach einer seltenen Diagnose - und diese fühlte sich für sie und ihren Partner doch fast erleichternd an. Was bleibt ist die Trauer - bis heute. Danke für deine besondere Geschichte, Alexandra!

Es ist der 15. Juli 2018, der Tag an dem sich unsere Gedankenwelt zum ersten Mal um 180 Grad dreht – überrascht und doch glücklich halten wir einen positiven Schwangerschaftstest in unseren Händen. Es vergehen Wochen voller Vorfreude, Fragen und Glück.

Es geht uns gut, Sorgen das etwas nicht stimmen könnte machen wir uns nicht. Wir sind schließlich noch jung, kerngesund, es gibt kein Risiko für einen genetischen Defekt in unseren Familien. Was soll da schon passieren? Einige Wochen später dann der erste Schock. Beim normalen Ultraschall wird eine Auffälligkeit sichtbar, die weder ich noch der Arzt einordnen können. Wir werden zum Pränataldiagnostiker überwiesen, sollen uns keine Sorgen machen, es wird schon alles gut sein.

Am nächsten Tag dann liege ich vor einem riesigen Bildschirm, mit meinem versteinerten Mann auf der einen und einem unnahbaren Spezialisten auf der anderen Seite. Das Wort Nackenfalte fällt, 6mm, und damit alle Hoffnungen auf ein gesundes Kind. Eine Chorionzottenbiopsie soll Klarheit bringen. Fünf Stunden später geht mein lange geplanter Flug nach Bali. Tausend Fragen sind im Kopf, Tränen strömen über mein Gesicht, Unsicherheit und schreckliche Angst füllen meine Gedanken. Heute weiß ich nicht mehr wie ich es geschafft habe, mich in diesem Moment für die Reise zu entscheiden und die Untersuchung somit um zwei Wochen aufzuschieben.

Es vergehen diese zwei Wochen, in denen mein Mann und ich uns viele Gedanken machen, getrennt voneinander, ich auf Bali, er in Deutschland. Ich sammle Informationen, schöpfe Hoffnung und in der Hilflosigkeit kläre ich meine Gedanken, denke positiv, hoffe auf ein gutes Ende. Mein Mann hingegen verliert in dieser Zeit jede Hoffnung darauf, ein gesunden Kind zu bekommen. Wir lesen alles über mögliche Trisomien und Defekte, was das für uns bedeuten würde, wir haben Angst, eine Entscheidung für oder gegen dieses kleine Leben treffen zu müssen.

Zwei Wochen später dann endlich die Entnahme des Gewebes. Der Eingriff geht schnell, nur ein kleiner Pieks, das wars. Am nächsten Tag dann das Ergebnis. Nachdem sich unser behandelnder Arzt nicht meldet, nehme ich unser Schicksal selbst in die Hand, rufe in dem Genetiklabor an und frage nach unseren Testergebnissen. Am anderen Ende ist eine überaus beruhigende Stimme, die mir von der ersten Sekunde an vertraut ist. Nach dem Satz „Frau Sabin, wir haben einen Grund für die Auffälligkeit gefunden“ ist mir klar, dass etwas nicht stimmt. Die Diagnose: Monosomie X, ein Gendefekt der bei einer von 2500 Schwangerschaften, aus denen ein Mädchen hervorgeht, vorkommt. Mit viel Feingefühl und unglaublichem Verständnis erklärt uns diese Stimme, dass dieses kleine Wesen die Schwangerschaft nicht überleben wird. 96% dieser Schwangerschaften enden frühzeitig, für uns bestünde kaum Hoffnung, da schon im Ultraschall eine vergrößerte Wasseransammlung zu sehen ist, die der Organismus der Kleinen nicht verkraften wird.

Man erklärt uns, dass das alles wie ein Blitzeinschlag sei, eine Laune der Natur, die weder etwas mit uns, unserem Alter noch unseren Genen zu tun hat. Wir legen auf, schauen uns an, fallen uns in die Arme, sind wie gelähmt. Erst ein paar Stunden später schaffen es Worte über unsere Lippen. Aus dem Schock wird langsam Realität, aus der Angst Erleichterung. Wir sind erleichtert, keine Entscheidung mehr treffen zu müssen, die Natur hat sie für uns getroffen und wir verschwenden keinen Gedanken daran, dieses Leben, welches nur zu Leiden führen wird, unnötig zu verlängern. Das hat uns sehr geholfen, diese Situation zu akzeptieren und nicht zu hinterfragen. 15 Wochen nach der frohen Botschaft ist es für uns Zeit, Abschied von unserer Roya zu nehmen. Wir entscheiden uns bewusst für einen Abbruch, wollen weder uns, noch die Kleine weiter quälen. Leider gibt es keine Hoffnung mehr und wir möchten für uns ein Ende, mit dem wir leben und abschließen können.

Noch heute ist da ein kaum zu beschreibendes Gefühl der Leere. Wir versuchen, sie zu füllen indem wir viel darüber reden, weinen, uns umarmen, uns Nähe schenken. Es ist seltsam von einer Art Erleichterung zu sprechen, aber genau dieses Gefühl ist da auch. Zu wissen, warum alles so gekommen ist, die medizinischen Zusammenhänge zu verstehen, Antworten auf Fragen zu bekommen – das hat uns geholfen, wieder klarer denken zu können, wieder Lebensmut zu schöpfen. Mein Mann ist mein größter Halt, er ist da wo niemand anderes da sein kann, hält mich, ermutigt mich, unterstützt mich. Ohne sein bedingungsloses Vertrauen in mich und darin, dass alles gut werden wird, hätte ich es nicht geschafft, so schnell wieder zurück in den Alltag zu finden.

Unsere Familien und Freunde wussten bereits von unserem Nachwuchs und so wissen sie nun auch um unser Schicksal. Wir hatten erst Angst davor, mit ihnen darüber zu sprechen, sie traurig zu sehen, ihnen Sorgen zu machen. Heute sind wir dankbar für alle die lieben Worte, die großartige Unterstützung, das gemeinsame Teilen. Mich hat erschrocken, wie viele von ihnen bereits ähnliche Verluste hatten, mal früher, mal später. Erst jetzt reden wir darüber. Fehlgeburten, Spätaborte, Totgeburten – noch immer ein Thema, welches keinen wirklichen Platz in unserer Gesellschaft hat. Wir müssen uns aber nicht mit unseren Geschichten verstecken, und dürfen es auch nicht.

Mit unserem Teilen können wir uns gegenseitig Trost und Hoffnung spenden, uns ermutigen. Jede dritte Frau erleidet im Laufe ihres Lebens eine Fehlgeburt – das hat mich zu tiefst getroffen und wachgerüttelt. Mich hat es ermutigt und in dem Entschluss bestärkt, ganz offen über unsere Geschichte zu sprechen. Diese Schicksale haben einen Platz verdient, sie gehören zu uns – genau wie all die schönen Momente in unserem Leben. Für uns war und ist es wichtig, über Roya zu sprechen. Wir sind dankbar für diese Erfahrung und nehmen sie an, ohne sie zu hinterfragen.

Dieser seltene Gendefekt hat keine Wiederholungswahrscheinlichkeit, das schenkt uns Kraft und Hoffnung irgendwann ein zweites, gesundes Kind in unserem Leben begrüßen zu können. Wir schauen nach vorn, wollen den Kopf nicht in den Sand stecken. Die Liebe zu diesem kleinen Wesen wird immer bleiben, uns immer Kraft geben. Es gibt Momente, in denen uns noch immer scheinbar die Luft zum atmen fehlt, in denen wir einfach nicht begreifen können, was passiert ist. Roya scheint so weit weg, wir weinen und fragen uns wie es weitergehen soll. Doch immer häufiger sind da auch wieder glückliche Stunden, voller Unbeschwertheit und Tatendrang, mit ihr an unserer Seite. Da wird sie für immer bleiben, uns Halt geben, Verständnis schenken und unsere Achtsamkeit füreinander bewahren.

 

Hinweis: Es ist nicht so, dass Kinder mit Monosomie x (Turner-Syndrom) grundsätzlich nicht überleben. Die meisten Schwangerschaften enden in einer Fehlgeburt und in diesem Fall war die Überlebenswahrscheinlichkeit aufgrund der sonographisch diagnostizierten Fehlbildungen sehr gering.
Ein Leben mit der Diagnose Monosomie X ist aber gut möglich. Häufig wird dieses Syndrom sogar erst im Jugendalter diagnostiziert, wenn bei den Mädchen die Menstruation ausbleibt.