Wie lebt es sich im Nestmodell?

Es klingt so schön: Das Nestmodell. So genannt, weil sich die Eltern wie Vögel verhalten, die abwechselnd zum Kind fliegen, um ihren Nachwuchs zu füttern und zu versorgen. Aber natürlich ist es im wahren Leben komplexer, sich die Betreuung eines Kindes auf diese Art und Weise aufzuteilen. Und auch wenn das Nestmodell in den vergangenen zehn Jahren etwas weniger exotisch geworden zu sein scheint, so ist es doch immer noch die Ausnahme. Umso mehr freuen wir uns, dass Anja aus Berlin ihre Erfahrungen damit heute teilt.

Eines vorneweg: Anja und ihr Ex-Freund praktizieren das Modell erst seit knapp zwei Monaten und finden sich immer noch in ihre neuen Rollen und ihr neues Leben. Ihr gemeinsamer Sohn ist 14 Monate alt und die Trennung war für sie eine große Herausforderung. “Es war schon lange klar, dass es auf eine Trennung herauslaufen würde. Wir dachten, es wird besser, wenn er in die Kita kommt”, sagt sie. Lange Zeit konnte Anja nicht über den Schmerz sprechen, denn sie und ihr Ex hatten sich ein Kind sehr gewünscht und zu akzeptieren, dass ihre Beziehung nach acht Jahren scheitert, als ihr großer Wunsch in Erfüllung gegangen war, war nicht einfach.
“Letztlich war es aber eine große Befreiung, sich das einzugestehen”, sagt Anja.

Als ihr Ex an einem Sonntag sagte, dass er nicht mehr kann und die Beziehung beendete, fing Anja sofort an, im Internet nach Lösungen zu suchen. Eine Freundin erwähnte schließlich das Nestmodell, von dem Anja bis dato nichts wusste. Aber es gefiel ihr sofort, denn solange ihr Sohn noch so klein war, fand sie es nicht tragbar, ihn mehr als zwei Tage nicht zu sehen. “Ich fand den Gedanken des Nestmodells gleich gut, mein Ex-Partner auch. Ein großer Grund für unsere Trennung war, dass er nicht 50 Prozent der Aufgaben im Haushalt und der Care-Arbeit übernommen hat. Deswegen sehe ich in diesem Modell auch eine Möglichkeit, das zu ändern”, sagt Anja.

Wie genau funktioniert das?

Anja ist 32 und arbeitet als Lehrerin an einer Oberschule. Sie ist seit fünf Jahren im Job und arbeitet derzeit zu 60 Prozent. “Davon kann ich gut leben, und ich weiß, dass das ein totales Privileg ist,” sagt sie. Ihr Ex arbeitet in der Medienbranche und in Vollzeit. Beide haben eine Hauptwohnung mit zwei Zimmern und ungefähr 60 Quadratmetern, in der sich Anja immer sehr wohlgefühlt hat und die für Berliner Verhältnisse sehr günstig ist: 640 Euro Warmmiete teilen sich die beiden, dazu kommen noch die Kosten für Internet, Strom, etc. Der Kleine schläft im Bett der Eltern. Einmal wöchentlich kommt ein Reinigungsmann (!), der Küche und Bad putzt, ein Teil der Haushalts-Arbeit ist also ausgelagert. Anja hat eine Zweitwohnung, ihr Ex kommt an den Tagen, an denen er nicht im “Nest” lebt, derzeit noch bei Freunden unter.

Anja hat lange gebraucht, um eine Wohnung zu finden, in der sie sich wohlfühlt, und zu Beginn widerstrebte ihr der Gedanke, irgendwo auch ohne ihr Kind zu leben. Mittlerweile hat sie eine Ein-Zimmer-Wohnung mit 40 Quadratmetern gefunden und zahlt dafür 340 Euro Warmmiete. “Sie ist in meinem Lieblingsbezirk und nah an meiner Arbeit. Natürlich werden wir unser Modell so, wie es jetzt ist, nicht für immer leben können, aber für mich war es wichtig, nach der Trennung schnell meinen eigenen Raum zu haben”, sagt sie.

Die Organisation ist, ihr ahnt es, sehr kleinteilig. Anja macht einen Dienstplan mit Zeitfenstern, die teilweise nur zwei Stunden umfassen. Der Tag ist nach dem Programm des kleinen Sohnes gegliedert: Frühstück, in die Kita bringen, aus der Kita holen, Nachmittagsgestaltung, Abendessen, ins Bett bringen, etc. So kann es sein, dass sie am Montag im Nest schläft, das Kind morgens versorgt, in die Kita bringt, von dort abholt und mit ihm bis 17 Uhr spielt und Zeit verbringt. Dann kommt ihr Ex für drei Stunden, übernimmt, macht Abendessen und bringt den Sohn ins Bett. Die Nacht zu Dienstag übernimmt Anja, sie bleibt am Dienstag auch bis 17 Uhr bei ihrem Sohn, dann übernimmt wieder der Ex und sie übernachtet in ihrer Wohnung und holt den Kleinen am Mittwoch gegen 14 Uhr aus der Kita. In dem Plan hat jeder der beiden Eltern eine Farbe und Anja addiert auch den Umfang der Stunden. “Am Anfang habe ich sehr viel mehr übernommen, deswegen war es mir wichtig, auf diese Art ein Gleichgewicht zu schaffen.”

So kompliziert das klingt, es klappt schon richtig gut, sagt Anja. “Am Anfang wollte ich die Trennung nicht und habe viel Zeit im Nest verbracht, obwohl ich keine Schicht hatte. Das versuche ich jetzt zu unterlassen. Abgrenzung ist sehr wichtig, Kommunikation sowieso. Das Nest hat ja immer noch einen gemeinsamen Kühlschrank, der gefüllt werden muss, und einen Haushalt, um den man sich auch kümmern muss”, sagt sie.

Den Haushalt nach der Trennung gemeinsam weiterführen


Genau, wie geht das eigentlich – sich die Hausarbeit sinnvoll und fair aufteilen, wenn man getrennt ist, vor allem, wenn das schon vor der Trennung nicht gut geklappt hat? “Das ist in der Tat schwierig, denn viele Dinge, die man früher zähneknirschend toleriert hat, sind jetzt richtig störend. Wenn es beim Schichtwechsel unter aller Kanone aussah, das Geschirr nicht eingeräumt war und die Wohnung im Chaos versunken ist, habe ich das angesprochen. Denn das passiert ja auch, wenn man ein Kind betreut, aber manchmal war es mir zu viel. Es ist aber besser geworden”, sagt sie. Für das Einkaufen haben die beiden noch kein gutes System gefunden, sie erfassen die Kosten per App und justieren am Ende des Monats nach. Die Wäsche macht immer der, der gerade Zeit hat. “Was sogar ganz gut funktioniert”, sagt Anja.

Und was ist mit dem sozialen Umfeld? “Die Playdates habe auch schon vor der Trennung nur ich begleitet, das ist auch so geblieben. Aber wenn gemeinsame Freunde aus unserer alten Heimat zu Besuch sind, dann sind wir auch schon mal zu zweit auf dem Spielplatz. Und als meine Eltern da waren, haben wir sogar gemeinsam zu Abend gegessen, meine Mutter hat für uns gekocht, und ich war positiv überrascht, wie einfach das ist”, erzählt sie.

Anjas Zwischenfazit? Das Nestmodell funktioniert für sie gut und hat einige richtig große Vorteile. “Es war eine wahnsinnige Befreiung für mich, wieder durchzuschlafen, Freunde zu treffen, zum Yoga zu gehen – ich war so überlastet, dass ich diese Zeit für mich richtig aufgesogen habe. Es hat mir auch geholfen, die schwierige Trennungssituation besser durchzustehen. Dadurch bin ich auch entspannter, wenn ich mein Kind sehe. Und natürlich ist ein großer positiver Aspekt, dass er in seiner Umgebung bleibt, sein Spielzeug und seinen vertrauten Wohlfühlbereich hat. Für mich war es nicht vorstellbar, ihn schon so früh in ein Wechselmodell zu ziehen”, sagt Anja.

Viele Vorteile – ein paar Nachteile

Nachteile hat das Ganze natürlich auch: “Er weint sehr, wenn ich gehe. Es gibt einen Rucksack, den ich immer mitnehme. Wenn ich den auch nur anfasse, dann krallt er sich an mich. Das ist unglaublich schwer – aber er beruhigt sich auch schnell.” Finanziell sei das Ganze ein ziemliches Desaster, denn jeder trägt seinen Anteil für den gemeinsamen Haushalt und muss dann noch eine eigene Wohnung finanzieren. “Und auch so viel Kontakt mit dem Ex-Partner zu haben, gleichzeitig aber immer wieder gehen zu müssen ist nicht immer einfach, da bin ich noch nicht hineingewachsen”, sagt Anja. Zu Beginn waren die Nächte und die Leere im neuen Bett richtig hart, mittlerweile genießt sie es, dass sie auch mal sechs Stunden am Stück schlafen kann.

Regeln, was ist, wenn es neue Partner gibt, haben beide noch nicht formuliert, die Trennung ist auch noch ganz frisch und viele Fragen noch offen. “Ich weiß zum Beispiel nicht, wie wir das machen, wenn wir in den Urlaub fahren wollen”, sagt sie. Positiv überrascht ist sie von den Reaktionen aus dem Umfeld: Viele finden es spannend zu hören, wie das Nestmodell konkret funktioniert und begegnen ihr mit Interesse statt Skepsis. “Meine Eltern haben erst mit großem Unverständnis reagiert, aber als ich sie dann hier waren, haben sie vorab nach unserem Wochenplan gefragt und sich erkundigt, ob sie denn ihren Enkel auch sehen können, wenn mein Ex im Plan steht. Das war dann total harmonisch”, berichtet Anja.

Der nächste Schritt wird nun sein, die Kita zu informieren. Und Anja versucht, immer mehr in ihren neuen Alltag hineinzuwachsen. “Viele sagen: ‘Das ist das Beste für das Kind, aber ich könnte das nicht.’ Das kann ich verstehen – auch mir fällt es nicht leicht. Aber eine Trennung mit einem so jungen Kind ist natürlich sowieso nicht das, was man sich wünscht. Wenn es kommt, bleibt einem nur, alles zu tun, damit es dem Kind gut geht.”