Die beiden Doulas Natalia Lamotte und Sarah Galan begleiten Frauen durch Schwangerschaft, Geburt und darüber hinaus. Bei ihrer Arbeit ist ein Begriff prägend: Die Muttertät. Für viele Erstgebärende ist der Weg in die Mutterschaft nämlich kein geradliniger, sondern ziemlich holprig und ein Prozess, der der Pubertät sehr ähnlich ist.
Muttertät – „Mütter sind wir nicht, Mütter werden wir und das darf dauern.”
„Muttertät” – als ich das gehört habe, dachte ich nur, das passt genau zu der Entwicklung, die ich mit meinem ersten Kind durchhatte! Was bedeutet der Begriff für euch?
Der Begriff ist abgeleitet aus dem Englischen Matrescence (wie Adolescence) – geprägt von der Anthropologin Dana Raphael -, mit dem wir zuerst die Aufklärungsgespräche begonnen hatten. Dabei haben wir schnell festgestellt, dass es für den deutschsprachigen Raum eine andere Bezeichnung braucht, die einfacher ausgesprochen werden kann und auch besser im Gedächtnis bleibt. So kamen wir auf Muttertät in Anlehnung an die Pubertät, die viel bekanntere und besser erforschte Entwicklungsphase.
Unter Muttertät verstehen wir die natürlichen Veränderungen der Persönlichkeit, des Körpers sowie von zwischenmenschlichen Beziehungen, die Frauen erleben, wenn sie Mutter werden. Damit meinen wir kein Ereignis, sondern einen Prozess, der Monate bis Jahre andauern kann. Denn: Mütter sind wir nicht, Mütter werden wir und das darf dauern.
Was sind eure persönlichen Erfahrungen mit der Mutterät?
Wir hatten beide etwas stärker zu kämpfen damit, in die Mutterrolle hineinzuwachsen. Wahrscheinlich lag das daran, dass wir die ersten Mütter im Freundeskreis waren und uns der Austausch mit Gleichgesinnten fehlte. Außerdem haben wir die erste Zeit damit verbracht, uns unsere Veränderungen möglichst nicht anmerken zulassen. Wir wollten genauso aussehen, so spontan, unternehmenslustig und organisiert sein wie vorher. Auf Social Media sah das bei allen anderen so einfach aus. Das hat natürlich sehr viel Kraft gekostet und konnte nur schief gehen. Genauso wie Jugendliche nie wieder Kinder sein werden, so sind auch Eltern für immer verändert und das ist sehr wichtig, denn es ist eine Weiterentwicklung, um die neuen Herausforderungen besser meistern zu können. Die Erwartungshaltung unserer westlichen Gesellschaft, dass dieses Ereignis nichts mit unserer Persönlichkeit und unserem Körper macht oder dass wir spätestens nach dem Wochenbett alles im Griff haben sollten, ist lächerlich. Deswegen braucht es viel mehr ehrlichen Austausch, Sichtbarkeit und Unterstützung. Nur so werden die vielen Veränderungen sowie die Auf und Abs des Elternwerdens normalisiert.
Irgendwie hatte ich damals nicht so sehr das Gefühl, da wäre ein neues Ich. Sondern eher: Ich habe mich besser kennengelernt und manche Seiten haben sich vielleicht verstärkt, andere Nuancen sind eher weniger geworden… Muttertät bedeutet vielleicht auch für manche Frauen unterschiedliche Dinge?
Die Erfahrungen sind von Frau zu Frau individuell (stark), genauso wie auch die Pubertät unterschiedlich erlebt wird. Schließlich haben wir jeweils unterschiedliche Temperamente, erleben die Zeit unter anderen Umständen und erhalten nicht alle die gleiche Unterstützung.
Am einfachsten können körperliche Veränderungen durch Schwangerschaft und Geburt beobachtet werden. Außerdem beschreiben viele Frauen, dass sich ihre Gefühlsskala erweitert. Die Hochs werden höher und die Tiefs tiefer empfunden. Viele Mütter berichten auch, dass manchmal gegensätzliche Gefühle innerhalb von Sekunden wechseln oder sogar gleichzeitig wahrgenommen werden. Diese Ambivalenz kann sich unangenehm anfühlen und uns an unserer Eignung als Mutter zweifeln lassen. Die Veränderungen können verschiedene Bereiche (Beziehungen, Beruf usw.) betreffen und sich auch mit jeder weiteren Schwangerschaft anders verhalten.
Spannend finden wir, dass es neben der subjektiven Wahrnehmung der Muttertät auch eine objektive Bestätigung aus der Forschung gibt. Die Neurowissenschaft konnte via Bildgebungsverfahren (MRT-Scans) nachweisen, dass sich die Gehirnstruktur von Müttern so deutlich verändert, dass ein Computer mit nahezu 100% Sicherheit zwischen Bildern von Müttern und Nicht-Müttern unterscheiden kann. Ähnlich signifikante Anpassungen zeigen Abbildungen von Gehirnen bei Mädchen während der Pubertät, wobei diese langsamer vonstatten gehen.
Wir erleben bei vielen Frauen eine enorme Erleichterung, wenn sie hören, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind
Warum braucht es einen Begriff für diese Phase?
Sprache schafft Realität. Sobald wir etwas benennen können, existiert es nicht mehr nur für uns und der Austausch mit anderen wird überhaupt erst richtig möglich. Wir erleben bei vielen Frauen eine enorme Erleichterung, wenn sie hören, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind und vor allem, dass es vollkommen normal ist, was sie fühlen. Es kann also auch dabei helfen, mehr Verständnis und Mitgefühl für sich und andere zu haben.
Und warum sollte mehr darüber geschrieben und gesprochen werden?
So wie die Pubertät eine vulnerable Phase ist, die mit einem erhöhten Risiko für psychische Krankheiten (z.B. Depression, Angststörung) einhergeht, so ist auch die Muttertät eine Zeit, in der empathische Begleitung und Unterstützung präventiv wirken können. Außerdem wird dank der Muttertät der Mythos des Mutterinstinktes in Frage gestellt, weil wir eben nicht über Nacht wissen, was unser Baby braucht und auch nicht unbedingt sofort die stärkste Liebe empfinden. Elternwerden ist ein Prozess, der viel Energie und ständige Anpassungen benötigt. Umso wichtiger ist es, dabei unterstützt zu werden und auch genug Zeit zu bekommen, reinzuwachsen.
Dasselbe Geschenk wurde einst Jugendlichen gemacht, die, bevor man sie so nannte, lediglich für verrückt gewordene Kinder gehalten wurden. So wurde auch ein komplett neues Forschungsfeld geschaffen.
Wie beeinflusst das Konzept von Muttertät eure Arbeit?
Eine der häufigsten Reaktionen von Müttern auf das Konzept ist: “Warum hat mir das keiner gesagt?” oder “Hätte ich das nur früher gewusst!” Deshalb ist es uns wichtig, möglichst schon in der Schwangerschaft ein Bewusstsein für diese Lebensphase zu schaffen, damit Frauen/Paare realistischere Erwartungen haben. Es ist sinnvoll, sich über die Geburt hinaus vorzubereiten und darauf sensibilisiert zu werden, dass sich nicht nur der Alltag verändern wird, sondern auch wir selbst eine signifikante Entwicklung erleben werden. Außerdem sollen sie wissen, dass ihre Gefühle sowie Gedanken vollkommen normal sind, es sehr vielen ähnlich geht und wie wertvoll Unterstützung oder Austausch in dieser Zeit sein kann.
Gibt es nicht auch eine Vatertät? Zumindest bei manchen Vätern?
Laut neuesten Forschungsergebnissen auf jeden Fall! Auch das Vaterwerden ist eine Entwicklungsphase und betrifft sowohl psychische als auch biologische Aspekte. Allerdings ist die Ausprägung davon abhängig, wie aktiv sich ein Vater an der Fürsorge beteiligt. Das bedeutet also, dass alle Nicht-Gebärenden Personen, unabhängig von Geschlecht und Verwandtschaftsgrad, die sich intensiv um ein Kind kümmern, eine prägende Entwicklungsphase erleben.
Danke euch!
Mehr über die Muttertät erfahrt ihr auf der Website von Natalia und Sarah – Schwesterherzen Doulas.