Der richtige Zeitpunkt

Als ich ganz frische Jung-Mama war, da sagte mir eine Freundin, deren Sohn schon viel älter war: “Ich kann dir keine Tipps gegen, außer einen: Es gibt für alles den richtigen Zeitpunkt, man muss sich nicht stressen lassen.” Ich behielt diesen Satz im Hinterkopf – und ließ mich dann doch oft stressen. “Lass dir nicht zu lange Zeit mit dem Abstillen, es wird nicht einfacher.” “Gewöhn ihn nicht daran, bei euch im Bett zu schlafen, irgendwann bekommst du ihn da nicht mehr raus!” Und: “Gewöhn ihm diese Milch ab, da musst du jetzt mal hart sein, das ist nicht gut für die Zähne!”

“Zieht es einfach durch”

Alles Quatsch. Das mit dem Abstillen – ich fand’s dann schade, dass ich schon so früh durch war damit. Auch nicht weiter schlimm, aber irgendwie schade. Da hat auch keiner Schuld daran, außer ich selbst. Warum habe ich nicht noch ein bisschen weitergemacht? Noch ein paar Wochen oder Monate, morgens und abends? Ach, keine Ahnung. Aber wenn Freundinnen, die noch stillen jetzt ab und zu sagen: ich hab keinen Bock mehr! Sage ich: Sicher? Überleg’s dir gut. Wenn du WIRKLICH nicht mehr willst, dann sollte auch Schluss sein. Aber erst dann. Die Entscheidung für’s Abstillen sollte nicht von außen beeinflusst sein.

Und die Sache mit dem eigenen Bett und der Milch, die hat sich bei uns gerade mal sowas von selbst erledigt, ohne hart bleiben, ohne Kampf, dass ich tatsächlich denke: da haben wir den richtigen Zeitpunkt erwischt. Als vor ein paar Wochen Xavers neues Bett geliefert wurde, sagte mein Freund: jetzt oder nie. Auch viele Freunde sagten das. Xaver hatte eine Extrem-Schlechtschlaf-Phase, verbrachte jede Nacht die halbe Nacht bei uns im Bett und schlief dort keinen Deut besser. Wir waren müde und genervt. Und alle sagten: zieht es einfach durch. Eine Woche, dann ist der Spuk vorbei. Aber es ging nicht. Xaver war überhaupt noch nicht bereit. Er wachte noch öfter auf, ich schlief neben ihm auf dem Boden, das machte doch alles überhaupt keinen Sinn. Zurück also zu uns ins Zimmer, so sehr wir es auch genossen hatten, mal abends mit Licht lesen zu können und nicht leise sein zu müssen.

Kuschel-Phasen

Zurück in unser Zimmer, zurück ins Reisebett, zurück in unser Bett. Ich habe nie aus Überzeugung familiengebettet, ich bin nämlich nicht davon überzeugt, dass das für Jeden was ist. Wohl aber habe ich oft aus dem guten Gefühl heraus mit Xaver in einem Bett geschlafen. Es gab immer wieder Zeiten, da wusste ich: er braucht das jetzt. Er braucht auch nachts den Rückhalt, den warmen Körper neben ihm, die Garantie, dass alles gut ist, weil Mama ja da ist. Ganz nah. Er signalisierte das auch. Positionierte sich in Löffelchen-Stellung vor mir und kuschelte seinen Kopf an mich, wie eine kleine Katze. Immer wieder, die ganze Nacht. Wie unfassbar niedlich. Wie könnte ich dieses kleine Kuschel-Kind aus meinem Bett vertreiben? Diese Zeiten waren dann auch immer bald wieder vorbei. Dann suchte Xaver sich seinen eigenen Raum, er bewegte sich nachts möglichst weit weg von mir, bis er aus dem Bett plumpste. Er meckerte, bis ich ihn wieder in sein Bett legte. Gerade war es wieder so. Ich dachte: jetzt ist er vielleicht so weit. Weihte also sein Zimmer mit ihm ein. Diesmal hatte ich eine Gästematratze besorgt, um nicht wieder auf dem Teppich schlafen zu müssen. Und, siehe da: es klappte. Er machte nicht ein Mal Anzeichen von: Ich will raus, ich will auf den Arm. Nach einer Woche auf der Gästematratze zog ich aus, Xaver schlief quasi durch. Und abends schickte er mich gar aus dem Zimmer, wenn er einschlafen wollte! Er freute sich sichtlich, im Bett zu sein, dann meckerte er und zeigte auf die Tür, und erst wenn ich draußen war, war Ruhe. Ich hörte, wie er sich hinlegte, wie er noch ein bisschen vor sich hin brabbelte, und irgendwann weg war. Jedes Kind kann schlafen lernen. Und in unserem Fall: ganz von alleine. Natürlich schläft er nicht jede Nacht durch, aber den Großteil der Nächte. Ich weiß, dass wieder andere Zeiten kommen werden, dass er uns wieder brauchen wird nachts. Dann bekommt er das eben. Prinzipiell aber mag er es jetzt anscheinend gerne, alleine zu schlafen. Interessanterweise musste ICH mich übrigens erst mal daran gewöhnen, ihn nachts nicht mehr nah bei mir zu haben. Ich bin jetzt die, die oft um vier Uhr wach ist, kurz in sein Zimmer schaut, ob alles okay ist, und dann Probleme hat, wieder einzuschlafen. Verrückte Welt.

Milch-Probleme

Und die Milch – das lief einher. Xaver war noch vor Kurzem absoluter Milch-Junkie. Wenn er müde war und eine Avent-Flasche mit weißem Inhalt sichtete, wurde geplärrt und gebettelt, bis sie sein war. Er bekam abends zum Einschlafen ein Fläschchen, und nachts, beziehungsweise frühmorgens, noch eines. Das nächtliche Fläschchen hatten wir ihm mit etwa acht Monaten schon mal abgewöhnt – ganz sanft übrigens, mit Tee und Kuscheln – als in Indien dann aber fünf Zähne gleichzeitig durchbrachen und wir auf engstem Raum mit vielen Menschen nächtigten, haben wir wieder angefangen, nachts Milch zu kochen.

Mittlerweile sind Monate vergangen, Xaver ist stolzer Besitzer von 12 Zähnen und diese Milch-Trinkerei schien nicht mehr passend. Außerdem: warum sollte ich noch Pulvermilch anrühren, er wog doch über 12 Kilo, und aß wie ein Scheunendrescher. Hunger und Nährstoffe – darum ging es ja schon lange nicht mehr, die Milch hatte reinen Ritual-Charakter. Anja riet mir zu verdünnter Kuhmilch, oder zuckerfreier Hafer- oder Reismilch, auch stark verdünnt. Und dann immer mehr Wasser zumischen, bis es irgendwann nur noch Wasser ist. Außerdem: Zähneputzen ist ein Muss vor dem Zubett-gehen! Ein langer Weg lag vor uns, dachte ich. Vollmilch verdünnt lehnte Xaver ab, was aber super klappte war stark verdünnte Reismilch. Wir machten es uns von da an also abends auf dem Sofa gemütlich, lasen eine Geschichte, tranken Reismilch. Und dann: Wurden die Zähne geputzt. Meine Angst, dass er danach wieder so wach sein würde, dass er nicht einschlafen könnte, war überflüssig. Das Einschlafen klappte (siehe oben!) besser denn je. Nachts stellte ich von da an (noch stärker) verdünnte Reismilch in sein Bettchen. Er schnappte sie sich, trank ein paar tiefe Schlücke. Und schlief wieder ein.

Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist…

Seitdem steht die Nacht-Milch immer im Bett, manchmal trinkt er ein bisschen was, aber eher selten. Unser aller Verhältnis zur Milchflasche hat sich also tiefenentspannt. Ohne Geschrei, ohne Gemeckere, und ich habe nicht mal das Gefühl, ihn groß ausgetrickst zu haben. Die Zeit war einfach reif.

Im Nachhinein kommt es mir so vor, als sei ich das ganze erste Jahr wild auf der Suche nach meiner Mama-Identität, nach “meinem” Weg gewesen. Tausend Ratschläge, Ideologien und vor allem Erfahrungen haben mich begleitet. Und ich war oft so unsicher! Mache ich alles richtig? Bin ich eine gute Mutter? Widme ich mich meinem Kind zu wenig? Zu viel? Dabei lief doch alles so gut. Xaver ist ein glückliches Kind, ich bin eine glückliche Mutter. Und es gibt wirklich für alle großen Schritte den ganz eigenen, individuellen Zeitpunkt. Irgendwann kommt dann der Schnuller weg, und vielleicht auch dieses verflixte Schnuffeltuch, nach dem er so verrückt ist. Irgendwann wird er keine Windeln mehr brauchen, und Fahrrad fahren und Schwimmen lernen. Irgendwann, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.