Fördern ist gut, Spielen ist besser!

BIldLetzte Woche war ich nach Hamburg eingeladen, um an einem Event von Fisher Price teilzunehmen und – oho! – in der Diskussionsrunde zu sitzen. Es ging um die Herausforderungen, denen sich Eltern heutzutage stellen müssen, und wie man trotz Ratgeber-Flut zu mehr Gelassenheit findet. Super-Themen, oder? Mit mir saßen da oben unter anderem Collien Ulmen-Fernandes (die aus ihrem Buch vorlas), Tanja zu Waldeck (vierfache Mama und Gründerin von NetMoms), Susanne Hummel (Zwillings-Mama), und Thomas Guntermann (bloggender Frisch-Papa) UND eben Prof. Dr. André Zimpel. Der hat uns allen die Show gestohlen, denn seine Erkenntnisse sind wohl die größte Entlastung für alle Eltern.

Mir geht es schon seit einer Weile so, dass ich die Vorstellung von ständigen Nachmittags-Verpflichtungen für Xaver eher gruseling finde. Muss ich ihn jeden Tag irgendwo hinfahren, damit er ideal gefördert wird? Man weiß ja, dass Kinder-Gehirne genial und unfassbar aufnahmefähig sind, aber ist es empfehlenswert, täglich Schwimm-, Klavier- und Spanisch-Unterricht anzubieten? Meine Mutter fragt schon immer, was er für ein Instrument lernen soll und irgendwie sagt mein Gefühl: der soll Kind sein! Der liebe Herr Zimpel gibt meinem Gefühl Recht. Er hat herausgefunden, dass Kinder sich am besten selbst fördern und zwar beim Spielen. Hurra! Er sagt außerdem, dass Zucker gut für Kinder ist, weil er die Akkus schnell auflädt und dass Toben den gleichen Effekt hat. Toben ist toll und wild sein auch. Ich bin begeistert! Und habe ihm ein paar Fragen gestellt, denn am besten kann er seine Erkenntnisse selbst erklären:

Eltern denken, sie müssten ihre Kinder in Kurse und zum Unterricht schicken, um sie zu fördern, stimmt das gar nicht?

Die Erkenntnis der Hirnforschung, dass sich das menschliche Gehirn nutzungsabhängig entwickelt, führt bei vielen Eltern zu dem Fehlschluss, man müsse das Gehirn trainieren wie einen Muskel. Weil sie ihre Kinder für die globalisierte Welt fit machen wollen, haben sich viele Eltern einen gefährlichen »Virus« eingefangen: die Förderitis. Aus Angst, ihre Kinder könnten den Anschluss an eine globalisierte Bildungsgesellschaft verlieren, versuchen sie ihre Kinder auf jede erdenkliche Art zu fördern: Frühenglisch, Kinderyoga, Malkurse und Musikunterricht wechseln sich in einem straffen Zeitplan miteinander ab. Dabei übersehen sie, dass das soziale Umfeld die Hirnentwicklung viel mehr bestimmt als jedes Training. Man kann diese Eltern nicht oft genug ermutigen, das Spiel ihrer Kinder ernst zu nehmen.
Manche Eltern ersparen ihrem Säugling kein Angebot vom Babyschwimmen bis zur musikalischen Früherziehung. Sie hetzen von einem Termin zum nächsten und merken gar nicht, wie ihnen die wertvolle gemeinsame Babyzeit zwischen den Fingern zerrinnt und der so wichtige stressfreie und spielerische Eltern-Kind-Dialog wegen überfüllter Terminkalender ausfällt.

Fördern sich Kinder denn selbst genug?

Die klassischen Entwicklungstabellen, die sagen, was ein Kind in einem bestimmten Alter können sollte, fördern den kontraproduktiven Entwicklungswettbewerb, dem Kinder leider oft ausgesetzt sind. Eltern erleben ihn beispielsweise, wenn sie auf dem Spielplatz angesprochen werden: »Was, Ihr Kind spricht noch nicht in ganzen Sätzen! Oh, wie alt ist es denn? …«
Wenn andere Eltern prahlen: »Montags gehen wir zum Ballettunterricht, dienstags zum Englischkurs, mittwochs zum Geigenunterricht, donnerstags zur Logopädie und freitags zum Feldenkrais «, sollte man eigentlich mit Stolz antworten: »Mein Kind hat die ganze Woche gespielt, mal mit anderen Kindern, mal mit uns und ab und zu auch allein. Es hat sehr viel Spaß am Leben!«
Selbst gewählte Kinderspiele sind immer ambitioniert. Kinder suchen sich aktiv Anforderungen, die am besten zu ihren Fähigkeiten passen. Kein Förderprogramm kann das leisten. In der internationalen Forschung spricht man hier vom »Goldilocks effect«. Das ist eine Anspielung auf das Märchen »Goldlöckchen und die drei Bären«: Goldlöckchen findet im Wald eine Hütte mit gedecktem Tisch. Ein Löffel ist zu groß, der andere zu klein und der dritte genau richtig, ein Brei ist ihr zu heiß, der andere zu kalt – aber der dritte ist genau richtig. Damit ist gemeint: Spielende vermeiden geschickt Über- und Unterforderung. So optimieren Kinder spielerisch das Lernen: Sie suchen sich aktiv Anforderungen, die sie wirklich weiterbringen.

Welche Rolle spielen die Eltern im freien Spiel, sollen und dürfen sie mitspielen?

Eine gelungene Beziehung zwischen Eltern und Kind beruht unter anderem auf der geteilten Freude am gemeinsamen Spiel: Eltern finden dann, dass sie das allertollste Kind überhaupt auf der Welt haben, und das Kind himmelt seine Eltern an. Unter Leistungsdruck kann sich das ändern. Plötzlich sehen Eltern eher das, was ihr Kind nicht kann und verlieren den Blick für seine liebenswerte Einzigartigkeit. Den Kindern gehen sie auf diese Weise leider als unbeschwerte Spielpartner verloren.
Schon mit etwa 12 bis 14 Monaten kann es sein, dass kleine Kinder spontan versuchen, ihren Eltern zu helfen. Zum Beispiel dann, wenn im Garten beim Einsammeln von Obst ein Apfel neben dem Korb landet oder im Arbeitszimmer ein Stift vom Schreibtisch fällt. Die Kinder können kaum laufen, stolpern noch über die eigenen Füße, aber versuchen schon, Mutter oder Vater heruntergefallene Wäsche zum Aufhängen zu reichen.
Anfänglich sind Eltern eher Spielanreger als Spielpartner. Das liegt daran, dass die Kinder gedanklich hauptsächlich mit dem Mitschwingen, was ihre Eltern und andere vertraute Personen tun. Deshalb ist die Verantwortung in den früheren Spielphasen besonders groß.
Später sind Eltern Spielgefährten zweiter Wahl. Das liegt daran, dass sie sich für Kinderspiele nicht genauso begeistern können wie andere Kinder. Eltern sollten sich aber wenigstens ab und zu anstecken lassen von der Spielbegeisterung ihrer Kinder. Unter Kindern schaukelt sich die Begeisterung wie von selbst hoch. Manchmal so hoch, dass Eltern regulierend eingreifen müssen.

Sie sagen auch: Zucker ist wichtig für das Gehirn der Kinder. Ich habe mir ja schon immer gedacht, dass es seinen Sinn hat, dass Kinder so verrückt nach Süßigkeiten sind. Wie kann ich es aber schaffen, Maß zu halten?

Das Gehirn, eine Masse von nur zirka 1,3 Kilogramm, verbraucht beim Erwachsenen nahezu zwanzig Prozent der gesamten Stoffwechselenergie. Noch dramatischer ist dieses Verhältnis bei Kindern, je jünger sie sind. Man schätzt, dass das Gehirn eines Neugeborenen etwa 75 Prozent der gesamten Stoffwechselenergie verbraucht. Die Grundlage des Hirnstoffwechsels ist nahezu ausschließlich die Verbrennung von Traubenzucker. Kein Wunder, dass Kinder so verrückt nach Süßem sind. Es gibt jedoch eine Alternative: Beim Herumtoben und ausgelassenem Spielen vergessen Kinder zeitweilig ihren Hunger auf Süßes.
Wenn uns Eltern in unserer Beratungsstelle an der Uni besuchen, dann entdecken die Kinder meist sehr schnell, dass man in den verwinkelten Gängen des Uni-Gebäudes wunderbar Herumlaufen und Fangen und Verstecken spielen kann. Zuerst erscheinen die Kinder müde von der manchmal langen Anreise, doch dann drehen sie richtig auf! Es erscheint paradox: Gegen Ermüdung hilft den Kindern Energieverbrauch! Je mehr Energie sie verbrauchen, umso munterer werden sie.
Das ist in der Tat so: Bewegung als Unterbrechung einer monotonen Arbeit macht genau so munter wie ein spannender Krimi oder ein Kaffee. Wie ist das möglich? Wie gelingt es Nervenzellen durch Energieverbrauch, Energie zu gewinnen? Für die Umwandlung des eingeatmeten Sauerstoffs in elektrische Energie brauchen unsere Nervenzellen winzige einzellige Organismen: die Mitochondrien. Sie sorgen in den Nervenzellen für elektrische Energie.
Bildlich gesprochen laden diese Organismen Moleküle wie Batterien auf. Diese »aufgeladenen Batterien« behandelt die Nervenzelle als Vorrat. Genügend Vorrat beruhigt die Zelle. Gehen die Vorräte jedoch zu Ende, müssen die kleinen Organismen aktiviert werden. Dieser Vorgang belebt das Gehirn. Kinder wissen das intuitiv: Energieverbrauch bringt ihnen kurzfristig Energiegewinn! Bildlich gesprochen laden Kinder beim wilden Toben »ihre Akkus« auf.
Eltern, die uns in der Uni besuchen, unternehmen oft hilflose Versuche, ihre außer Rand und Band geratenen Kinder dazu zu ermahnen, mit dem Toben aufzuhören. Dann schauen sie uns besorgt an, ob das wilde Spiel ihrer Kinder auch in Ordnung sei. Wenn wir das bejahen, sind sie meist sichtlich erleichtert.
Es gibt jedoch noch einen anderen Grund, warum man Kindern möglichst oft das Herumtoben und Miteinander-Kabbeln gestatten sollte. Sie steigern ausgerechnet in den wildesten und ausgelassensten Phasen des miteinander Kabbelns ihre soziale Intelligenz.

Vielen Dank!!

Wer weiterlesen will: Zimpels Buch “Spielen macht schlau!: Warum Fördern gut ist, Vertrauen in die Stärken ihres Kindes aber besser” erscheint im Dezember und kann hier bei Amazon vorbestellt werden.

Oben findet ihr noch ein paar Bilder vom Event und mir in der Gesprächsrunde (hui, war ich aufgeregt!). Mit dabei waren natürlich auch viele Blogger-Kolleginnen, zum Beispiel Supermom Jette (deren Zuckermädchen Marlene auch das Cover-Bild ziert), Mia von Mamamia und Janine vom Mummy Mag. Die Kinder haben selig mit Fisher Price Spielzeug gespielt (irgendwie auch immer die Favoriten von Xaver. Holzspielzeug? Päh!), und es war wirklich ein netter Vormittag. Merci!