Für das ewige Kind in dir

Diese Bild habe ich im Nachlass meiner Großeltern gefunden. Der kleine blonde Junge im Bild, der diesen herzhaften Knutscher bekommt ist wohl mein Opa. Er hatte eine harte Kindheit und wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf: Seine Mutter war alleinerziehend mit sechs Kindern! Von unseren Problemen konnte sie wohl damals nur träumen. Dieses Bild ist wahrscheinlich in den 30er Jahren entstanden und trotzdem kommt es mir so vertraut vor, so als wäre es gestern geschossen worden. Und der kleine blonde Junge - könnte auch glatt mein Sohn mit zwei Jahren sein. Kaum vorstellbar, dass aus diesem kleinen Menschen mal ein Soldat wurde. Dann ein Vater, und nach der Zeit ein Großvater. Obwohl es ganz offensichtlich der Lauf des Lebens ist - ein Kind wird zu einem erwachsenen Menschen - fasziniert es mich und kommt mir vor wie ein Wunder.

Für immer Kind

Die Kindheit hat nämlich so etwas Ewiges, so als würde es sie konstant geben auf der Welt, so als würde mein Sohn für immer dieses Kind bleiben und das Kindsein wäre irgendwie ein Teil seiner Persönlichkeit. Und auf eine Art und Weise wünsche ich ihm auch, dass er dieses Kind immer mit sich trägt, ein Teil von ihm immer dieser neugierige und lustige Junge bleibt. Und für mich wohl sowieso: Er wird immer mein Baby bleiben, auch wenn er irgendwann mit breiten Schultern als Mann vor mir sitzen wird. Selbst wenn wir jetzt kuscheln, habe ich das Gefühl, als spüre ich diese physische Verbindung noch genau, die es mal zwischen uns gab.

Aber vor kurzem ist es mir mit einem leichten Schrecken bewusst geworden: Das wird mal ein Erwachsener. So sehr natürlich die Angst vor dem Loslassen müssen mich hin und wieder erwischt, so sehr teilt sie sich den Platz mit der Freude über sein Großwerden. Mehr und mehr kommt seine Persönlichkeit zum Vorschein. Spätestens seitdem er mit voller Inbrunst und Gerechtigkeitssinn ruft “Mama, das hast du falsch gesagt!” lässt es sich nicht mehr leugnen; das kleine Wesen denkt, selbstständig. Und ist clever genug kleine Lügen aufzudecken. Ein Beispiel: “Das Sushi-Restaurant hat zu”: Das Lieblingsgericht meines Sohnes ist Sushi. Nein, keine Pizza oder Nudeln. Am liebsten würde er den ganzen Tag teueres Sushi essen. Ich habe ihm natürlich schon erklärt, dass Sushi eben etwas besonderes ist und es mehr Geld kostet und wir deshalb nicht immer Sushi essen können. Hilft aber meist nix. Was in letzter Zeit funktioniert hat, war im “Restaurant anrufen” und dann erklären, dass sie dort leider erst neuen Fisch fangen müssen und dass das Restaurant deshalb zu hat. Seit neuestem kontert er: “Mama, dann bestellen wir halt!”

Die Tage sind lang, aber die Jahre sind kurz.

So langsam entwickeln sich bei ihm auch gewisse Vorlieben, die er nicht mehr nur stark äußert, um seinen eigenständigen Willen zu zeigen, sondern hinter dem tatsächlich eine Präferenz, Gedankengänge und Erfahrungen liegen. Es war ein kurzer und langer Weg dahin, die Babyzeit, die Kleinkindzeit. Ich mache mir nichts vor: Es war saumäßig anstrengend. Wie sagt man manchmal? Die Tage sind lang, aber die Jahre sind kurz. So fühlt es sich rückblickend an: Wenn sich die Tage unter Schlafmangel alleine mit dem Baby gezogen haben – kommt mir diese Zeit heute nur wie ein kurzer Augenblick vor. Deshalb starre ich meinen Sohn manchmal an: Betrachte intensiv jeden Winkel seines Gesicht, jede Bewegung des Mundes, jedes Lächeln, jeder Ausdruck von Wut oder auch die Tränen, die manchmal kullern. Ich möchte es alles einsaugen, als ob er schon morgen ein anderer Mensch sein könnte. Als ob ich so die Zeit anhalten könnte.

Aber die Zeit hält nicht an. Und das ist ja auch das Wunderbare daran: Mein Sohn wird groß. Er ist ein kleiner Mensch, der ernstgenommen werden will. Der seine eigenen Gedanken hat.

Und zu meinem Opa: Vielleicht war das Leben so hart, dass ihm deshalb das Kindliche verloren gegangen ist. Wir sprechen ja hier auch von einer Kriegsgeneration. Eine “harte preußische Erziehung” hat wohl schon in der Kindheit ihr Übriges getan. Aber er war auch mal ein kleiner Junge. Und ich bin mir sicher, er hatte dieses lebensfrohe Kinder-Funkeln in seinen Augen. Und ich wünsche mir für meinen Sohn nichts mehr, als dass er eben immer dieses Funkeln in seinem Blick behält. Dass ich ihm das Vertrauen ins sich selbst und ins Leben mitgeben kann, dass alles irgendwie immer wieder gut wird. Dass auch, wenn einen Schicksalsschläge treffen, man nie den neugierigen Blick für das Schöne verliert. Dass das Kind in ihm immer bleibt.