Blogger-Sommer: Anja von “Von guten Eltern” über Beikost-Mythen

Anja von "Von guten Eltern" ist um ehrlich zu sein, für mich so etwas wie die ultimative Fachfrau in Sachen Kinderhaben. Wenn jemand überhaupt Ahnung davon hat, dann ja wohl sie! Sie ist Hebamme, 3-fache Mutter, wunderbar allwissend, und dennoch niemals bevormundend, oder gar belehrend.

Der Blog, den sie zusammen mit ihrem Mann Christian schreibt, trägt nicht ohne Grund den Untertitel “Wie das mit dem Kinderhaben wirklich ist” – die beiden müssen es ja wohl wissen! Neben ihren vielen Fachgebieten, gibt es seine Sache, die Anja besonders am Herzen liegt: Beikost-Einführung. Ihre Kinder waren allesamt Brei-Verweigerer, wollten sich nicht füttern lassen. Mittlerweile sind sie trotzdem groß und stark geworden, und gute Esser noch dazu! Passend dazu bringt Anja im Herbst ein Buch heraus, zusammen mit Loretta Stern: Das breifrei! Kochbuch. So schmeckt es dem Baby und der ganzen Familie. Da geht es dann nicht nur um die entspannte Einführung von “echtem” Essen, nein, Anja und Loretta stellen auch konkret Rezepte und Ideen vor, wie das ganze in der Realität ablaufen kann. Wir freuen uns drauf! Und haben Anja ein paar Fragen gestellt:

Liebe Anja! Warum machen so viele Eltern sich verrückt, wenn es um die Einführung von “echtem” Essen geht?

Die Frage ist, ob sich wirklich die Eltern verrückt machen oder ob sie einfach verrückt gemacht werden. Sehr viele Mütter berichten mir, dass, wenn sie eigentlich gerade in einer sehr schönen und gemütlichen Stillzeit angekommen sind – vor allem wenn es anfangs vielleicht Stillprobleme gab – sie spätestens mit dem Thema konfrontiert werden, sobald das Kind vier Monate alt ist. Zum einen sind es das familiäres Umfeld und Freunde. Zum anderen sind es auch viele Fachleute, die manchmal ganz unbedacht Empfehlungen verbreiten, die entweder überholt sind oder überhaupt nicht zu diesem Kind passen.
Die Sorge, dass dem eigenen Kind entweder bestimmte Nährstoffe oder einfach Kalorien fehlen könnten, löst aber immer elterliche Urängste aus. Dabei wachsen Kinder gerade in den ersten Monaten so schnell wie nie wieder danach in ihrem Leben. Sie verdoppeln in der Regel ihr Geburtsgewicht und das alles nur mit Muttermilch bzw. Prenahrung bei nicht gestillten Kindern. Warum sollte also die Muttermilch plötzlich nach vier Monaten abrupt an Nährwert verlieren? Im Übrigen bietet der bei uns hochgepriesene Karottenbrei gerade mal die Hälfte an Kalorien wie eine etwa gleich große Menge Muttermilch. Beim Beikoststart geht es also vor allem darum, dass das Baby neues Essen in vielen Varianten kennenlernt und nicht um eine ganz schnelle Entwöhnung von der Milchnahrung.

Sind eigentlich viele Kinder klassische Brei-Verweigerer? Und ist das Brei-Essen und Gefüttert-werden tatsächlich so “unnatürlich”, wie manche Baby Lead Weaning-Vertreter proklamieren?

Wenn man ganz genau hinschaut, sind es wahrscheinlich mehr Kinder, als wir vermuten. Denn nicht selten arbeiten Eltern mit allerlei Tricks, um den Brei ins Baby zu bekommen. Sei es die Ablenkung durch Smartphone-Videos oder das Hinterherrennen mit dem Breilöffelchen, wenn sich das Kind eigentlich in einer Spielsituation befindet. Oft wird auch „nachgestopft“, das heißt, dass Brei, den das Kind mit der Zunge aus dem Mund befördert hat, mit dem Löffel vom Mund- und Kinnbereich abgekratzt und wieder in den Mund befördert wird. Da der Mund- und Lippenbereich aber eine sehr empfindliche Körperzone ist, sollte das unterlassen werden. Das gilt auch für das ständige Mundabwischen zwischendurch. Dies irritiert kleine Kinder sehr und ist recht unangenehm. Es hilft, sich als Eltern einfach mal gegenseitig zu füttern, dann wird schnell klar, was unangenehm ist und wie etwa zu schnelles Füttern oder den vollen Löffel zu dicht vor das Gesicht zu halten. Es gibt also einige Faktoren, die man beachten muss, damit das Löffeln „babyfreundlich“ geschieht. Manche Kinder sind da leicht zu irritieren und reagieren dann mit Ablehnung. Das bezieht sich dann aber nicht auf das angebotene Essen, sondern auf die Füttermethode. BLW-Kinder müssen übrigens auch nicht komplett breifrei aufwachsen, aber sie löffeln ihr Frühstücksporridge, den Kartoffelbrei oder das Risotto vielleicht am liebsten selbst. Natürlich können und dürfen Eltern auch unterstützen. Der Beikostweg muss immer zum Kind und zur Familie passen – egal ob gefüttert, BLW oder eine Mischung von beidem.

Welche Tipps hast du, damit schon ganz kleine Kinder am Familientisch mitessen können? Und ab welchem Alter kann das funktionieren?

Entscheidend ist weniger das kalendarische Alter, als die nötigen Beikostreifezeichen, die ein Großteil der Kinder mit ungefähr einem halben Jahr aufzeigt. Erst dann sind die Kau- und Zungenmotorik, aber auch der Magen-Darm-Trakt soweit, dass die neue Kost im Körper verarbeitet und verdaut werden kann. Wenn Kinder im seltenen Fall tatsächlich früher diese Reifezeichen aufweisen, dürfen sie natürlich auch eher starten, aber keinesfalls vor dem vollendeten vierten Lebensmonat. Mein Haupttipp ist, erstmal keine Erwartungen zu haben, außer dass das Kind aufgeschlossen und neugierig darauf ist, mal etwas anderes als Muttermilch oder Prenahrung zu probieren. Probieren heißt erst mal, auf Konsistenz und Geruch prüfen und es dann eventuell auch in den Mund zu stecken und zu schmecken. Dies ist Herausforderung genug. Es ist immer sinnvoll, Babys bei den eigenen Mahlzeiten mit am Tisch dabei zu haben. So ergibt sich manchmal oft ein komplett vom Baby selbstbestimmter Beikostbeginn, wenn es den Eltern einfach die Kartoffel vom Teller klaut und daran lutscht.

Viele Eltern haben tierisch Angst, dass die Kinder sich verschlucken. Mit Recht?

Verschlucken können sich Babys ja auch an Brei, aber die Sorge wird in Bezug auf  stückige Nahrung öfter geäußert. Der Würgreflex, mit dem unpassende Dinge wieder ausgespuckt werden, ist bei Babys viel weiter vorne im Mund gelegen als bei uns Erwachsenen. Dies ist ein wichtiger Schutzfaktor. Ganz wichtig ist aber vor allem auch, dass das Baby beim Essen immer aufrecht sitzt und niemals mit dem Fingerfood gefüttert wird, sondern es selbst in den Mund nimmt. Natürlich muss ein Erwachsener immer dabei sein – das gilt für löffelgefütterte Kinder wie für breifreie Babys. Auch Breiessern sollte ja nach einiger Zeit mal weiches Obst oder gedünstetes Gemüse angeboten werden, damit  auch sie das Handling und das Kauen von stückiger Nahrung im Mund lernen. Natürlich gibt es auch einige Lebensmittel, die gänzlich ungeeignet sind, etwa unverarbeitete Nüsse. Da es auch im Kleinkindalter immer wieder Situationen geben kann, wo sich ein Kind verschlucken könnte, ist es für viele Eltern beruhigend, in einem Erste-Hilfe-Kurs für Kinder entsprechende Handgriffe für den Notfall erlernt zu haben. Zum Glück werden diese nur äußerst selten zum Einsatz kommen müssen, da Babys mit einem guten Würg-und Hustenreflex ausgestattet sind.

Noch so eine Angst: Das Kind bekommt doch nicht genug Nährstoffe! Wie kann man dem vorbeugen?

BLW ist ebenso wie die Beikosteinführung mit Brei keine schnelle Abstillmethode. Die Beikost wird erst mal nur BEIgefüttert, also zusätzlich zur eigentlichen Hauptnahrung, die erst mal weiterhin die Muttermilch oder Prenahrung bleibt. Deshalb nennt man Babys auch im gesamten ersten Lebensjahr Säuglinge, weil die Beikost erst nach und nach die Milchmahlzeiten bestimmt. Das Tempo gibt das Kind vor. Ich kenne Babys, die sehr schnell größere Mengen am Familientisch mitessen, ob breifrei oder püriert. Und Kinder, die lange Zeit erst mal nur „homöopathische Dosen“ an Beikost zu sich nehmen. Wenn diese Kinder weiterhin nach Bedarf gestillt werden bzw. Prenahrung erhalten, stimmt auch die Nährstoffversorgung. Bei tatsächlichen Bedenken oder eventuellen Symptomen kann eine Blutuntersuchung aufschlussreich sein. Ein diagnostizierten Eisenmangel würde man dann aber mit einem Eisenpräparat behandeln und nicht, indem man das Kind zwingen würde, reichlich eisenreiche Beikost wie Fleisch zu verzehren. Das Thema Essen darf nicht zum „Kampf am Esstisch“ werden. Wenn Eltern sich also wirklich Sorgen machen, ist eine Untersuchung beim Kinderarzt sicher der bessere Weg, als Babys zum Essen bestimmter Mengen zu zwingen.

Wenn ich nicht mehr stillen will, kann eine solche Beikost-Einführung auch mit der Flasche klappen?

Klar! Wie schon erwähnt, ist dieser Weg natürlich auch mit der Flasche, sprich Prenahrung, gut machbar. Wichtig ist auch hierbei, dass diese weiterhin nach Bedarf gegeben wird. Es ist übrigens nicht notwendig, auf Folgenahrungen umzusteigen. Ganz im Gegenteil wird von Expertenseite eindeutig gerade so genannnte 2er- und 3er-Nahrung nicht empfohlen.

Und die letzte, große Frage: das ist doch vor allem eine Riesen-Sauerei, oder…? Ganz ehrlich: wie war und ist das bei euch?

Irgendwann müssen die Kleinen ja lernen, selbst zu essen. Denn auch bei breigefütterten Babys ist diese Fütterphase nur die Überbrückung, bis das Kind ungefähr um den ersten Geburtstag herum am Familientisch mitessen sollte. Je früher die Kinder also üben dürfen, umso schneller ist die Extremschmierphase auch wieder vorbei. Ungefütterte Kinder essen oft recht früh auch schon gut mit Besteck. Am Anfang sind aber die Hände das wichtigste Besteck. Auch kleine Breiesser wollen mitmachen – entweder mit dem eigenen Löffel oder indem sie auch die Hände in den Brei tunken und probieren. Kinder wollen ihre Welt und natürlich auch ihr Essen begreifen, mit allen Sinnen. „Mit dem Essen spielen“ ist übrigens mit die beste motorische und sensorische Frühförderung. Die Hand-Mund-Koordination lässt sich ebenso wie der Pinzettengriff wunderbar bei den Mahlzeiten trainieren. Eine kleckerfreie Esslernphase ist einfach nicht vorgesehen. Darum sollte man eine babyfreundliche und elternfreundliche (leicht zu reinigende) Essumgebung schaffen. Ein bisschen Chaos am Esstisch mit kleinen Kindern bleibt noch eine ganze Weile so. Bei uns fliegt mindestens einmal am Tag ein volles Wasserglas auf dem Esstisch um… da hilft nur: wischen und lächeln.

Danke Anja!

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